Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
sah dabei aber die ganze Zeit Nora an. Er ahnte wohl, dass sie bei diesem Meinungsumschwung ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Dann nahm er das Papier, das Richter ihm zwei Tage zuvor mit versteinertem Gesichts-ausdruck überreicht hatte, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Trotz des Fehlschusses mit Kurylenko brauchte er jeden Kopf in der Soko. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass sie erst ganz am Anfang standen.
Den Plan, sich Kanther vorzunehmen, unterstützte er verhalten. Zugleich dämpfte er aber ihre Hoffnungen. Ihm sei kein Fall bekannt, in dem ein Serientäter sich so lange aus dem Geschäft zurückgezogen habe.
Nora und Richter machten sich trotz Hartmanns Vorbehalten auf den Weg ins Nordend. Sie wollten sich einen Eindruck von Kanther verschaffen, doch um ihn vorzuladen, fehlte ihnen ein konkreter Grund. Nora schlug vor, sich an einem neutralen Ort mit ihm zu unterhalten.
Die Datenbank des Einwohnermeldeamtes bestätigte, dass Kanther nach wie vor unweit des Merianplatzes wohnte, und lieferte ihnen die Telefonnummer gleich dazu. Richter rief während der Fahrt die Festnetznummer an.
Als Kanther sich meldete, legte er auf. Nun wussten sie, dass er zu Hause war. Im elektronischen Telefonbuch fand sich kein Hinweis auf eine Mobiltelefonnummer, aber das musste nichts heißen, er konnte eine Prepaidkarte verwenden oder war einfach nicht erfasst. An die Informationen der Mobilfunkanbieter kam man ohne richterliche oder staatsanwaltliche Anordnung nicht heran. In den Daten des Landratsamtes hatten sie kein auf Kanther zugelassenes Fahrzeug entdeckt, offenbar pflegte er zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein.
Da Parkplätze im Nordend rar waren, ließ Nora ihren Kollegen in der Nähe der Wohnung aussteigen und begab sich auf die Suche. Richter setzte sich in ein Straßencafé, von dem aus er den Eingang zu Kanthers Haus im Blick hatte. Kurz darauf traf Nora ein. Die beiden tranken Kaffee und warteten. Nora überflog die Taschenbuchausgabe von Drachentöter , die ihr Vater ihr geschenkt hatte. An der Titelei blieb ihr Blick eine ganze Weile hängen. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, doch in diesem Moment stupste Richter sie an.
Kanther tauchte auf. Auf dem Foto war seine Körpergröße nicht ersichtlich, doch jetzt sah man, dass er beinahe zwei Meter maß. In den Jahren, die seit der Entstehung des Bildes vergangen waren, hatte er zwar einige Kilo zugelegt, sein Gesicht hatte sich jedoch kaum verändert. Die gleiche schwarze Brille, die strähnigen Fransen, die ins Gesicht fielen, die kleinen Augen. Kanther stapfte an ihnen vorbei in Richtung Berger Straße und schnaufte wie ein Olympionike nach dem Rekordversuch.
Die beiden Kommissare ließen ihm einen kleinen Vorsprung. Dann zahlten sie und standen auf.
Es ging los.
*
Kanther war ewig nicht mehr im Baumanns gewesen. Vermutlich hieß der Laden inzwischen nicht einmal mehr so. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich, wie in so vielen alteingesessenen Läden und Kneipen im Nordend, die in den letzten Monaten pleitegegangen waren, ein Wettbüro, ein Telefonshop oder ein Billigfriseur dort breitgemacht. Es blieb ihm schleierhaft, warum die Stadt diese Schwemme von Läden zuließ. Schuppen, die eigentlich niemand haben wollte, und von denen sich kaum einer länger als sechs Monate hielt.
In der Berger Straße warf er einen kurzen Blick auf die Wühltische eines Buchladens und bog dann in eine ruhigere Seitenstraße ein. Tote, schmutzige Fassaden statt hektischer Betriebsamkeit vor gestylten Läden. Der Kontrast zum Hochglanzleben um die Ecke hätte nicht größer sein können. Das Café am Ende der Straße hieß tatsächlich nicht mehr Baumanns , sondern Kombucha . Die neuen Besitzer hatten jedoch kaum etwas verändert. Abstrakte Bilder, hohe Decken, Tische aus dunklem Holz und das Sonnenlicht, das durch die große Panoramascheibe fiel, verbreiteten eine unerwartet freundliche Kaffeehaus-Atmosphäre.
Kanther setzte sich an die Bar und bestellte Bordeaux. Er wollte sich heute etwas Besonderes leisten, er hatte es sich verdient. Mit der Post hatte Rittka einen Briefumschlag mit Bargeld geschickt. Hermann Rittka. Kanther musste beim Gedanken an sein Anagramm lachen. Er hatte sich also selbst Geld geschickt?
Der junge Mann hinter der Bar stellte das Weinglas vor ihm ab. Wischte die Metallflächen der italienischen Kaffeemaschine und fuhr sich dabei gedankenverloren durch die schwarzen Locken. Jemand hatte Kanther
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