Tödliche Gier
Wasser gezogen«, sagte sie schließlich.
»Sie warten auf den Abschleppwagen. Odessa meinte, er würde uns Bescheid sagen, sobald es etwas Neues gibt.« Ich aß ein E, steckte den Rest des Hershey-Riegels in meine Umhängetasche und verschränkte die Arme — ein vergeblicher Versuch, warm zu werden.
Crystal gab ein Geräusch von sich, das halb Seufzer und halb etwas anderes war: Anspannung, Ungeduld, schlichte Erschöpfung. »Ich wusste, dass er tot ist. Das ist die einzige Erklärung, die überhaupt einleuchtend war. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er nicht einfach davonspaziert und Griff allein lässt.«
»Crystal, sie haben den Wagen bis jetzt noch nicht herausgezogen. Wir wissen nicht, ob er darin sitzt.«
»Er ist dort. Leila dreht garantiert durch.«
»Wie das? Sie mag ihn doch gar nicht.«
»Natürlich nicht. Sie hat ihn wie Dreck behandelt. Wie soll sie damit je Frieden schließen?«
Ich zögerte, wollte aber unbedingt mehr hören. Crystal war verletzlicher, als ich sie je erlebt hatte. Vielleicht war das meine einzige Gelegenheit. »Worüber ist sie denn so aufgebracht?«
»Das ist zu kompliziert zu erklären.«
»Nichts ist zu kompliziert, falls er tot ist.«
Crystal richtete sich auf und wandte sich um. »Warum soll ich Ihnen das erzählen? Sie arbeiten doch nicht für mich.«
»Ich arbeite auch nicht gegen Sie. Was belastet Leila denn so?«
»Warum soll Sie das etwas angehen?«
»Tut es eigentlich nicht, wenn Sie so wollen, aber es wird mit Sicherheit schlimmer werden.«
»Das ist mir auch klar«, erwiderte sie. Nach einer langen Pause fuhr sie fort: »Leila hatte schon einige traumatische Erlebnisse. Sie braucht Hilfe, um damit klarzukommen.«
»Sie geht zu einem Psychiater?«
»Schon seit Jahren. Zuerst dreimal die Woche. Jetzt nur noch zweimal im Monat an den Wochenenden, wenn sie vom Internat nach Hause kommt.«
»Er vergibt an den Wochenenden Termine?«
»Es ist eine Frau.«
»Entschuldigung. Ich hätte nicht gedacht, dass Psychiater so entgegenkommend sind.«
»Diese schon. Sie geht unglaublich geschickt mit Jugendlichen um. Leila war zuvor schon bei vier anderen Therapeuten, und ich war mit meiner Weisheit am Ende.«
»Wie haben Sie diese Therapeutin gefunden?«
»Da hatten wir ausnahmsweise einmal Glück. Charlotte Friedman ist eine alte Freundin von Anica. Ihr Mann ist in den Ruhestand gegangen, und sie sind aus Boston hierhergezogen.«
»Was für ein Trauma ist es denn? Ich habe es immer noch nicht begriffen.«
Crystal schien mit sich zu ringen. Sie starrte vor sich hin, und als sie wieder zu sprechen begann, war ihr Tonfall so ausdruckslos und fern wie der Klang einer alten Schellackplatte. »Ich hatte einen kleinen Jungen, der ertrunken ist. Natürlich hat das uns allen zugesetzt. Es war der Anfang vom Ende, was Lloyd und mich betraf. Es gibt Dinge, von denen man sich nie erholt. Der Tod eines Kindes gehört dazu.«
»Wie ist das passiert?«
»Er hieß Jordie. Mein Süßer. Er war achtzehn Monate alt. Eines Abends war ich bei der Arbeit und habe ihn bei der Nachbarin gelassen. Sie hat telefoniert, und Jordie ist zur Fliegentür hinausgetappt und in den Pool gefallen. Bis sie ihn gefunden und die Sanitäter gerufen hatte, konnte er schon nicht mehr wiederbelebt werden.«
»Das tut mir Leid.«
»Ich dachte, ich würde sterben, aber für Leila war es noch schlimmer. Kinder sind auf Verluste nicht vorbereitet. Sie verstehen es nicht, und es ist schwer, den Tod in Worte zu fassen, die sie nachvollziehen können. Ich bin nie religiös gewesen. Und ich wollte ihr kein Märchen erzählen, erst recht keines, das ich selbst nicht glaube. Dr. Friedman sagt, wenn sie mit dem Tod eines Geschwisterchens konfrontiert werden, klinken sich manche Kinder einfach aus. Sie tun so, als sei nichts passiert. Andere, wie Leila, fangen an, über die Stränge zu schlagen. Sie ist schwierig. Sie haben es ja selbst gesehen. Aufsässig. Leicht reizbar. Ich habe mit Charlotte gesprochen — natürlich mit Leilas Erlaubnis. Charlotte meint, Leilas Benehmen sei ihre Art, sich zu distanzieren, eine Barriere zwischen sich und der Welt zu errichten, die sie als tückisch empfindet. Wenn ihr an niemandem etwas liegt, kann sie nicht verletzt werden. Auf jeden Fall weiß ich, dass ich sie schützen will. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich ihr das hier beibringen soll.«
»Sie ist hier. Haben Sie sie denn nicht mit Lloyd dort drüben stehen sehen?«
Crystal schoss abrupt in die Höhe. »Das wusste
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