Tödliche Gier
Natürlich konnte dies ein Irrtum sein, eine Verwechslung, aufgrund deren Güter und Dienstleistungen versehentlich über die falsche Patientenkodenummer abgerechnet wurden. Andererseits erschien jedoch überall Klotildes Familienname mit seiner ausgefallenen, undurchschaubaren ungarischen Schreibweise, also konnte man die Sache kaum damit erklären, dass jemand einen »Smith« oder »Jones« falsch eingetragen oder einen »Johnson« mit einem anderen verwechselt hatte, dessen Vorname mit dem gleichen Buchstaben begann. Am hilfreichsten war mir die Tatsache, dass zwar die Nummer der Anträge wechselte, aber Klotildes Medicare-Nummer ihr von einem Formular zum nächsten folgte. Ich notierte mir die Angaben auf einem Zettel, faltete ihn und steckte ihn in meine Jeanstasche. Ich fragte mich, ob ihre Unterlagen wohl nach wie vor in Pacific Meadows aufbewahrt wurden. Höchstwahrscheinlich schon, dachte ich mir. Sie war im April gestorben, und ich nahm an, das Haus würde ihre Akte mindestens ein Jahr lang im Archiv aufbewahren, bevor man sie einlagerte.
Ich wartete bis halb zehn und vertrieb mir die Zeit mit verschiedenen Verrichtungen im Haushalt. Eine Toilettenschüssel zu schrubben kann wunderbar beruhigen, wenn der Angstpegel steigt. Ich schrubbte erst Waschbecken und Wanne und kroch dann auf dem Badezimmerfußboden herum und wischte mit demselben feuchten Schwamm die Fliesen ab. Ich saugte, wischte Staub und startete einen Waschgang. Von Zeit zu Zeit sah ich auf die Uhr und versuchte abzuschätzen, wann die Bewohner von Pacific Meadows wohl zur Nachtruhe gebettet würden. Schließlich tauschte ich meine Sauconys gegen schwarze Turnschuhe und schlüpfte in eine schwarze Windjacke, die sich besser für Nachtarbeit eignete als mein gelber Regenmantel. Ich machte Haus- und Autoschlüssel aus der größeren Sammlung an meinem Schlüsselbund los, nahm Führerschein und etwas Bargeld aus der Brieftasche und schob beides in die Jeans. Als Letztes steckte ich ein kleines Etui ein, in dem meine Dietriche sind. Dieser spezielle Satz wurde von einem kriminellen Freund von mir gestaltet, der seine Freizeit im Gefängnis damit verbracht hatte, ein Sortiment Dietriche anzufertigen, die aussahen wie ein Maniküreset. Zwischen einzelnen Einbrüchen konnte ich mir also die Nagelhäutchen entfernen und die Nägel feilen. Der einzige andere Gegenstand, den ich mitnahm, war eine flache Taschenlampe vom Format einer Spielkarte, die ohne weiteres in meinen BH passte. Auf dem Weg zum Pflegeheim machte ich einen Umweg zum Drive-through-Schalter von McDonald’s, wo ich mir eine Tüte Hamburger, zwei Cola und zwei große Portionen Pommes frites besorgte.
Als ich am Pacific Meadows ankam, war der Parkplatz fast leer. Die Tagschicht war schon weg, und die Nachtschicht arbeitete mit stark reduziertem Personal. Ich parkte mein Auto auf einem unbeleuchteten Teil, nahm die Tüte mit dem Fast Food und schloss die Tür hinter mir ab. Der Regen gab sich unentschlossen und hing direkt nördlich von uns über der Bergkette. Unterdessen war uns zwischen den einzelnen Güssen eine Pause gegönnt worden, die lang genug war, um das Pflaster an manchen Stellen trocknen zu lassen. Als ich über den Asphalt ging, musterte ich erneut den Grundriss des Gebäudes und versuchte die Lage von Ruby Curtsingers Zimmer zu bestimmen. Ich wusste, dass ein Vogelhäuschen vor ihrer Schiebetür hing, und ich hoffte, es als Bezugspunkt ausmachen zu können. Gerade hatte ich die Hausecke erreicht, als hinter mir ein Wagen auf den Parkplatz bog.
Verstohlen trat ich in den schützenden Schatten eines Wacholderbusches, während der Fahrer seinen Wagen in eine Lücke in der Mitte der Reihe manövrierte. Der Wagen war klassisch, lang, mit stumpfer Schnauze und sanft gerundeten Kotflügeln. Marke und Modell konnte ich nicht auf den ersten Blick benennen. Die Karosserie wirkte wie aus den vierziger Jahren, der Lack war cremefarben und die vordere Stoßstange eine klobige Angelegenheit aus auf Hochglanz poliertem Chrom. Vier Türen, kein Trittbrett, vier strahlende Weißwandreifen, keine Kühlerfigur. Der Mann, der ausstieg, war ebenso schick wie das Auto. Er warf eine brennende Zigarette beiseite, die ich kurz auf dem Asphalt blinken sah, bevor die Feuchtigkeit sie auslöschte. Er trug einen hellen Regenmantel über einem dunklen, dreiteiligen Anzug und schwarze Budapester mit Absätzen, die beim Gehen laut klackten. Als er an dem beleuchteten Eingang anlangte, konnte ich seinen
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