Tödliche Gier
dichten Schnurrbart und einen üppigen, silbernen Haarschopf sehen. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld. Als ich mir sicher war, dass er weg war, ging ich auf dem Weg, der an dem schmalen Garten entlang verlief, weiter zur Rückseite des Gebäudes.
Die meisten Patientenzimmer waren dunkel und die Vorhänge fest vor die gläsernen Schiebetüren gezogen. Ich schloss die Augen und versuchte mir die Lage von Rubys Zimmer im Verhältnis zu denen ihrer Nachbarn vor Augen zu führen — schwierig, da ich sie erst einmal besucht hatte. Ich suchte nach dem Vogelhäuschen, das ihre Dachtraufe geziert hatte, und hoffte, dass das Pflegeheim nicht jedem Bewohner eines spendiert hatte. Vor mir stand eine der gläsernen Schiebetüren leicht offen, und ich konnte das flackernde Licht eines Fernsehers sehen. Draußen war ein leeres Vogelhäuschen zu erkennen, das wie eine kleine Laterne von einem dünnen Draht hing. Ich beugte mich näher zur Fliegentür. »Ruby? Sind Sie da drinnen?«
Ihr Rollstuhl stand keinen Meter weit weg. Sie beugte sich vor und spähte durch die Fliegentür zu mir heraus. Sie schien eine Weile zu brauchen, bevor sie begriffen hatte, wer ich war. »Sie sind die Freundin von Merry. Tut mir Leid, aber Ihren Namen weiß ich nicht mehr.«
»Kinsey«, sagte ich und hielt die Tüte in die Höhe. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Sie entriegelte die Fliegentür und winkte mich hinein. Ihr knochiges Gesicht leuchtete auf. Ich schob die Fliegentür auf und trat ins Zimmer. Sie zeigte auf die Tüte. »Was ist da drin?«
Ich hielt sie ihr offen hin, und sie spähte hinein, während ich ihr den Inhalt erläuterte. »Zwei Big Mäcs, zwei Hamburger Royal mit Käse, zwei Cola, zwei Portionen Pommes und mehrere Päckchen Ketchup und Salz. Ich dachte mir, Sie brauchen das.« Ich reichte ihr die Tüte. »Das Zeug ist vermutlich kalt. Dafür muss ich mich entschuldigen.«
»Ich habe eine Mikrowelle.«
»Ehrlich? Prima. Ich hoffe, Sie haben Hunger.«
»Und wie.« Sie stellte sich die Tüte auf den Schoß und rollte zu einer niedrigen Kommode hinüber. Obendrauf standen ein elektrischer Wasserkocher und eine Mikrowelle von der Größe eines Brotkastens. Sie stellte die Tüte hinein und schaltete das Gerät ein. Über die Schulter sagte sie: »Schauen Sie mal, ob die Luft rein ist.«
Ich ging hinüber zu der Tür zum Flur, die bereits für die Nacht geschlossen war, drehte am Knauf und öffnete sie einen Spalt weit. Im Flur war es dämmrig. Am anderen Ende erstrahlte das Schwesternzimmer wie eine glühende Lichtoase. Mit dem Rücken zu mir stand dort der Herr, den ich erst vor wenigen Minuten hatte das Haus betreten sehen. Vielleicht ein Verwandter, der zu später Stunde noch einen Besuch machte. Die Tür gegenüber von Rubys Zimmer flog abrupt auf, und heraus kam eine Schwester in einer schicken weißen Uniform und einem gestärkten weißen Käppi, weißen Strümpfen und weißen Schuhen mit Kreppsohlen, die Krampfadern verhüten sollten. Ich hätte nicht gedacht, dass sich Krankenschwestern heutzutage noch so kleideten. Die paar, die ich bisher gesehen hatte, trugen Straßenkleidung oder weiße Hosenanzüge aus maschinenwaschbaren Synthetikfasern. Es war Pepper Gray, die bissige Schwester, die bei meinem ersten Besuch das Gespräch zwischen Merry und mir belauscht hatte. Sie hatte ein Stethoskop um den Hals hängen und zog eine besorgte Miene, während sie auf die Uhr sah. Dann wandte sie sich in Richtung Dienstzimmer und marschierte rasch den Flur hinab.
Hinter mir machte Rubys Mikrowelle »ping«. Ich zuckte zusammen und schloss hastig die Tür zum Flur. Es gab keinen Schlüssel, und ich hoffte, die billigen, berauschenden Düfte des Junk-Foods würden nicht das Personal aufscheuchen. Ruby nahm die Tüte aus der Mikrowelle und fuhr zu ihrem Platz neben der gläsernen Schiebetür zurück. Sie schob den Servierwagen zwischen uns und wies auf einen Stuhl. Ich wollte ihr eigentlich nichts wegessen, aber ich hatte wirklich mehr mitgebracht, als sie verdrücken konnte, und war selbst am Verhungern. Die Gesellschaft schien sie anzuregen, und so mampfte sie ihren Hamburger Royal fast so schnell hinunter wie ich. Wir stießen beide leise Schnupperlaute aus, als wir uns über die Big Mäcs und die Pommes hermachten.
»Ich hoffe, Ihr Herz setzt nicht aus«, sagte ich und trank einen Schluck Cola.
»Wen juckt’s? Auf meiner Karte steht, dass ich nicht wiederbelebt werden will, also könnte ich in Frieden ruhen.« Sie
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