Toedliche Hoffnung
gelohnt hatte. Die beweglichen Körper im Kontrast zu den schweren Stühlen, die Beständigkeit verkörperten, etwas, in dem man verweilen wollte und von dem es einen zugleich wegzog. Außerdem stellten sie reale Hindernissedar, die die Tänzer daran hinderten, sich frei zu bewegen, und der Choreografie auf diese Weise Umwege und Verzögerungen abverlangten. Tschechows Stück handelte von drei Schwestern, die sich das gesamte Stück hindurch nach Moskau sehnen, ohne jemals dort anzukommen, während sich die Welt um sie herum verändert. Zunächst hatte ich mir eine leere Bühne vorgestellt, Sternenhimmel und Weltraum, dann aber eingesehen, dass etwas Festes auf der Bühne fehlte, etwas, das die Frauen an sich band. Warum gingen sie nicht einfach weg? Nahmen den nächsten Zug?
Ich drückte Benjis Arm zum Zeichen, dass ich zurück war. Eigentlich hieß er Benedict, aber das durfte ich niemandem erzählen.
»Was ist los?«, fragte er. »Wo bist du gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt.«
Nicht einmal Benji wusste, wie beunruhigt ich war. Ich hatte weitergearbeitet wie immer, während sich in meinem Inneren die Gedanken um Patrick im Kreis drehten.
»Sie üben jetzt die Szenen mit Mascha«, flüsterte er mir ins Ohr.
Das Licht wechselte von gelb zu blau, erlosch und wurde erneut eingeschaltet. Der Beleuchter hatte die Szene noch nicht im Griff.
»Eigentlich hätten sie die Szene mit Irina wiederholen sollen, aber Leia hat sich in der Garderobe verschanzt. Sie sagt, dass sie nie wieder in diesem Theater tanzen will, weil hier böse Schwingungen in der Luft liegen und sie ihr Innerstes dann nicht ausdrücken kann.«
Er sah mich von der Seite an und lächelte boshaft.
»Und sie sagt, du seiest an allem schuld.«
»Ja aber, was zum Teufel ...«
Ich stand auf und stöhnte so laut, dass es im gesamten Zuschauerraum zu hören war. Duncan, der Choreograf, starrte mich von der Bühnenkante herab an und bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich gehen sollte. Raus. Und die Situation bereinigen. Danke auch, ich verstand seinen Wink.
»Ich spreche mit ihr«, zischte ich Benji zu. »Oder glaubst du, sie wird sich bei meinem Anblick sofort umbringen?«
Das Weiße in seinen Augen leuchtete in dem misslungenen Licht blau.
»Das hat sie wohl ernsthaft schon mal versucht. Duncan hat sie damals gefunden. Wusstest du, dass die beiden mal was miteinander hatten?«
»Bin gleich zurück«, fauchte ich.
Vor der Umkleidekabine hatte sich bereits ein kleiner Auflauf von Kollegen gebildet.
»Sie kommt nicht raus«, sagte Helen, die Olga spielte, die dritte Schwester. »Sie sagt, wir sollen jemand anders die Irina spielen lassen, aber sie weiß ganz genau, dass das nicht geht.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Eliza, die Marketingchefin des Theaters, die schon alle denkbaren Neurosen hatte ausbrechen sehen. »Sie wird schon kommen, sobald sie anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, ob ihr sie vermisst.«
Ich klopfte an die Tür.
»Komm schon, Leia«, rief ich. »Ich hätte das nicht zu dir sagen dürfen. Diese Vorstellung kommt nicht ohne dich aus. Du bist Irina . Keine beherrscht ihre Rolle so wie du.«
Dreizehn Sekunden lang war es still. Ich zählte mit. Dann klackte das Schloss. Ich schlüpfte in die Garderobe und schloss die Tür hinter mir. Das Gesicht der Tänzerin war von der zerronnenen Schminke gestreift. Sie schniefte noch immer.
»Ich verstehe nicht, was ich dir getan habe«, schluchzte sie. »Warum bist du so gemein?«
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es muss wohl der Premierenstress sein.«
»Es ist dir egal, wie es mir geht«, sagte sie. »Du denkst nur an dich. Alle in dieser verdammten Branche denken nur an sich.«
»Alle sind nervös«, entgegnete ich. »Es ist eine wichtige Vorstellung.«
Leia sah mich durch ihr verschmiertes Make-up hindurch an. Eine Maske der Verzweiflung, dachte ich. Das musste ich mir merkenund irgendwann verwerten. Die zerlaufene Schminke, ein Mensch, der dabei ist, auseinanderzubrechen. Erst fällt die Maske, dann das Gesicht, hinter dem sich ein neues Gesicht verbirgt. Niemand ist, was er zu sein scheint. Und dahinter liegt wiederum eine weitere Maske, genauso wahr oder falsch wie die Oberfläche.
»Weshalb bist du denn bitte nervös?«, fragte Leia, die zu weinen aufgehört hatte. Sie schielte in den Spiegel und streckte sich nach der Abschminkcreme. »Du brauchst doch nicht auf der Bühne zu stehen, vor einem Publikum, dass dir nicht unbedingt
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