Toedliche Hoffnung
»Oder ob sie ihn erst in die Rue Charlot verschleppt haben.« Er begrub sein Gesicht in den Händen. Sein Rücken bebte.
»Er wollte doch einfach nur ein besseres Leben.«
Ich ließ mich auf der Bettkante nieder. Im Zimmer war es genauso dunkel wie am Vortag. Als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Nur Salif war aus dem Bild herausgehoben worden.
Sein Geruch war noch da. Schweiß, Angst und verbrauchte Luft.
»Es war, als würde er mich anstarren, doch seine Augen waren vollkommen leer, und dann dieses Loch, hier in der Stirn ...« Arnaud klopfte sich mit der Faust zwischen die Augen. »Und dann sah ich, dass der Gips zerstört und die Bandage an den Händen abgerissen und der Körper so merkwürdig verdreht war, als ob ... als ob ...«
»Als ob?«, hakte ich nach, obwohl ich eigentlich gar nicht mehr hören wollte.
»Sie ihm beide Arme gebrochen hätten.«
Arnaud brach in Tränen aus. Ein langgezogenes, schmerzliches Jaulen, das mich am Denken hinderte.
»Ist es denn überhaupt klug, hier zu sein?«, fragte ich. »Vielleicht kommen sie zurück.«
»Die Tür war offen. Er muss ihnen aufgemacht haben. Dabei habe ich ihm doch gesagt, dass er niemandem die Tür öffnen sollte!«
Arnaud schniefte. Hör auf zu heulen, dachte ich, wenn du weinst, hast du keine Chance. Dann holen sie dich. Und ich sahein, dass ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf hörte.
»Wie konnten sie ihn finden?«, fragte ich.
»Ich habe bei einigen Nachbarn geklopft«, sagte Arnaud und fummelte an der Fernbedienung herum, die er in der Hand hielt.
»Ist das nicht die Aufgabe der Polizei?«, fragte ich.
»Die Polizei weiß nicht, dass er hier wohnte.«
Ich sah ihn an.
»Aber du musst es ihnen sagen. Es geht hier immerhin um Mord, nicht um eine mögliche Ausweisung.«
Arnaud stand auf und ging zum Fenster. Mit einem Zipfel seines Schals wischte er sich die Tränen ab, dann wandte er sich mir zu.
»Die Polizei wird in diesem Fall nicht ermitteln«, sagte er, »hast du das etwa immer noch nicht kapiert?«
Ich begleitete Arnaud Rachid, als er bei den übrigen Nachbarn klingelte. Auf irgendeine Weise waren Salifs und Patricks Schicksale miteinander verknüpft. Dessen war ich mir sicher.
Die erste Klingel war defekt. Arnaud klopfte an die Tür. Sie öffnete sich einen winzigen Spalt, und eine kleine, verschleierte Alte spähte mit einem Auge hindurch.
Arnaud sprach Arabisch mit ihr. Nach einigen Minuten öffnete sie die Tür um einige weitere Zentimeter. Misstrauische Augen musterten mich.
»Sie hatte gestern Besuch von der Polizei«, sagte Arnaud, als sie die Tür wieder geschlossen hatte. »Sie waren auf der Suche nach einem illegalen Flüchtling.«
»Aber es kann doch wohl kaum die Polizei gewesen sein, die ihn erschossen hat?«
Entschlossen ging Arnaud zur nächsten Tür. Niemand öffnete. An der nächsten Tür dasselbe. Obwohl ich glaubte, drinnen Geräusche zu hören.
»Die Menschen haben Angst«, erklärte Arnaud, »sie wissen, dass die Polizei in der Regel schlechte Nachrichten überbringt.«
An der nächsten Tür öffnete ein Mann in langen Unterhosen,der Französisch sprach und mich mit seinen Blicken auszog, während er mit Arnaud redete.
»Sie zeigten ihren Dienstausweis und fragten nach einem Illegalen, der zur Fahndung ausgeschrieben war.«
»Sagten sie seinen Namen?«, fragte Arnaud.
»Ja, aber daran erinnere ich mich doch nicht.« Der Mann kratzte sich im Schritt.
»Salif?«, fragte ich.
Er strahlte. »Ja genau, so hieß er, und irgendeiner dieser komplizierten Nachnamen. Ich sagte, dass es von diesen Typen nur so wimmelt hier, wer soll da noch den Überblick behalten.«
Als wir wieder in der Wohnung angekommen waren, zog ich den Rollladen hoch, der sofort wieder bis zur Hälfte herunterrasselte und nur einen breiten Sonnenstrahl hereinließ. Dann ging ich in die Kochecke, fand eine gesprungene Tasse in einem Schrank und trank etwas Leitungswasser, während ich auf Arnaud wartete, der auf der Toilette war.
»Woher wussten sie, dass er hier war?«, fragte ich, als er im Flur auftauchte. »Glaubst du, dass sie mir folgen? Oder dir?«
»Ich weiß es nicht.«
Er lehnte sich gegen die Spüle und raufte sich die Haare.
»Ich verstehe nicht, warum er die Tür geöffnet hat. Er sollte der Polizei nicht aufmachen, niemandem.«
»Könnten die Polizisten gekauft worden sein?«
»Oder sie hatten gefälschte Dienstausweise. Niemand kann seinen Namen gewusst haben, außer denjenigen, denen er entkommen war. Ich
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