Toedliche Luegen
waren allerdings bloß die äußeren Verletzungen. Denn bis heute war sie nicht fähig, über ihre Angst zu reden, über die entsetzliche Starre, die sie trotz der immer näherkommenden Gefahr auf dem Boden festgenagelt hatte. Lange Zeit war es ihr unmöglich gewesen, an einem Straßenrand stehen oder in einem parkenden Auto sitzen zu bleiben. Und selbst heute noch war sie nicht in der Lage, ohne ein Gefühl abgrundtiefer Widerwärtigkeit diese vernarbten Stellen zu berühren.
„Was hast du?“, bohrte Alain misstrauisch. „Ich habe dich gewarnt. Und nun bist du angewidert von meinem Aussehen.“
Mit ihrem Mitgefühl oder Abscheu hatte er gerechnet. Niemals dagegen mit diesem Zorn, diesem glühenden Licht in ihren grünen Augen, dem verzerrten Gesicht einer Frau, die er an die Grenzen ihres klaren Verstandes getrieben hatte.
„ Jesus und Maria, hast du es immer noch nicht kapiert? Du erzählst so einen Scheiß, dass wir noch Hals über Kopf darin versinken werden. Was glaubst du eigentlich, wie ich es gemeint habe, als ich sagte, ich würde dich mögen?“, schrie sie ihn an. „Willst du nicht oder kannst du nicht begreifen? Im Gegensatz zu dir liegt mir nichts an Perfektion. Glaubst du, deine Narben würden mich auch bloß im Geringsten interessieren?“
Sie bedachte ihn mit einem Queen-Victoria-Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie ganz und gar nicht amüsiert war, während sie überlegte, ob sie die Wahrheit mit Fäusten in seinen sturen Schädel hämmern, ihn mit Nichtachtung strafen oder einfach aus ihrem Zimmer werfen sollte.
Völlig verwirrt nickte er.
Da färbte sich ihr Gesicht dunkelrot. Sie erhob sich vom Bett, legte ohne ein Wort der Erklärung ihre Hose ab und deutete auf eine handtellergroße, hässliche Narbe an der Innenseite ihres Beines.
„Du glaubst also, etwas ganz Besonderes zu sein, hä? Kein anderer hat je Schlimmeres erlebt als du?“, giftete sie. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du eingebildeter Laffe! Läuft nicht jeder Mensch mit mehr oder weniger sichtbaren Narben gekennzeichnet durchs Leben? Narben auf dem Körper, auf der Seele, wer weiß das schon, wenn man sie nicht sehen kann? Hast du gar nichts begriffen von dem, was Suse erzählt hat? Von den vielen Toten auf ihrem Schiff? Ich kann dir versichern, dass irgendwann die Spuren verblassen, vor allem wenn man das Leid anderer erkennt und nicht bloß Augen für seinen eigenen Schmerz hat und sich darin ohne den geringsten Versuch einer Gegenwehr ertrinken lässt. Dir ist noch nie aufgefallen, dass ich keine Röcke oder Kleider trage, stimmt‘s? Nimmst du überhaupt etwas anderes um dich herum wahr? Deine Fähigkeit, dich selbst zu bemitleiden, hast du bereits zu einer beeindruckenden Perfektion entwickelt. Weiter so!“ Sie hob die Hände und klatschte dreimal betont langsam Beifall.
Der Ärger auf ihrem Gesicht wich einer unendlichen Traurigkeit und Enttäu schung. Sie hatte sich eingebildet, er würde ihr vertrauen.
„Verstehst du endlich , warum ich etwas gegen Perfektionismus habe? Weil es den nicht gibt! Weil sich immer ein Makel selbst unter einer scheinbar makellos glatten Oberfläche finden lässt. Wir wollten ehrlich zueinander sein, Alain, erinnerst du dich? Ich kann …“ Sie blinzelte hektisch die aufsteigenden Tränen zurück. „Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, welche Schmerzen du erleiden musstest. Dermaßen sinnlos …“
Er schlug eine Hand vor die Augen und biss die Zähne knir schend aufeinander, weil ihre Worte ihn so sehr beschämten. Ihr Mitleid machte es ihm nicht leichter.
„Wa rum habe ich bei dir ständig das Gefühl, wirklich alles falsch zu machen, was es falsch zu machen gibt? Warum drängt es mich unaufhörlich, bei dir um Verzeihung zu bitten?“ Er zuckte hilflos mit der Schulter. „Obgleich ich es nicht oft übers Herz bringe, möchte ich mich entschuldigen für das, was ich sage oder tue oder auch nicht sage oder tue. Wenn wir uns nicht anschreien, bin ich damit beschäftigt, die richtigen Worte für eine Entschuldigung zu suchen. Es ist unerträglich, wie viel Zeit ich auf diese Weise vergeudet habe. Dabei ist mir die Zeit mit dir so kostbar.“
Er blickte in die Tiefe ihrer Augen. Irgendwo hoffte er eine Antwort finden. Er streckte seine Hand aus. „Komm her.“
Beate stand reglos vor ihrem Bett, die Fäuste in den Hüften, und schaute mit grimmigem Gesichtsausdruck auf Alain hinab, der sich entspannt auf das Kissen sinken ließ.
„Nun
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