Toedliche Luegen
vorgeworfen. Sie hielt sich eher für einen Tiefstapler.
Manchmal ist er egoistisch und nachtragend wie sein Bruder, dachte sie traurig. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man es glatt als Erbmasse bezeichnen. Diese verbohrten Sturköpfe!
Am späten Vormittag des nächsten Tages saß Beate schweigend mit ihrem Vater beim Brunch und lauschte andächtig der leisen Musik im Hintergrund. Sie liebte diese Ruhe und die sich an das ausgiebige Essen anschließenden Gespräche und gemeinsamen Unternehmungen mit Pierre. Während der letzten Wochen hatte er viel zu wenig Zeit dafür gehabt. Fairerweise musste sie einräumen, von ihrer Arbeit ebenfalls in nicht unerheblichem Maße in Anspruch genommen worden zu sein.
Da sie keinen Verdacht in Pierre erwecken wollte, hatte sie ihren Radiowecker auf die zum Aufstehen am Sonntag übliche Zeit gestellt und sich aus dem Bett gequält, um pünktlich bei Tisch zu erscheinen. Er würde früh genug erfahren, was am Vortag geschehen war – spätestens dann nämlich, wenn Alain seinem Bruder die Arztrechnung präsentierte.
Sie hoffte , ihr bliebe bis zu diesem vorhersehbaren, neuerlichen Familienkrach genügend Luft für ein paar ruhige Stunden mit ihrem Vater. Nach dem Marathon mit den Monegassen durch Paris und den zwei Stunden Schlaf fühlte sie sich noch nicht bereit für die nächste Auseinandersetzung. Glücklicherweise ließ sich Alain an Wochenenden, an denen Pierre zu Hause war, nie vor dem gemeinsamen Abendessen blicken.
Deswegen schaute Beate umso überraschter von ihrem Baguette auf, als Alain pfeifend die Treppe zum Erdgeschoss herab geschlendert kam. Er schien bester Stimmung zu sein, was sie in Anbetracht seiner Erlebnisse in der Rue Gwan-Valla und der kurzen Nacht, die hinter ihnen lag, äußerst merkwürdig fand. Eines Tages, so befürchtete sie, würde sie von seiner Launenhaftigkeit ein Schleudertrauma davontragen.
„Hallo, ihr zwei. Guten Morgen! Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen? Oh, Enigma , du hast denselben Geschmack wie ich, Bea. Das wusste ich gar nicht. Was steht heute auf eurem Programm? Darf ich mich vielleicht sogar anschließen?“
Beate war dermaßen verblüfft, dass ihr die Stimme versagte. Sie saß stocksteif und mit offenem Mund da und glaubte zu träumen.
Zurückhaltend erwiderte sie seinen Gruß: „Guten Morgen. Wie …“
Wie hast du geschlafen?
Gerade noch rechtzeitig klappte sie den Unterkiefer hoch und biss sich dabei schmerzhaft auf die Zunge. Hatte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank?
„Wie geht es d ir?“
Lachend klopfte er mit der eingegipsten Hand auf den Tisch. „Das wird schon wieder, keine Bange, selbst wenn es mich beim Schreiben einigermaßen behindern wird und ich deswegen heute besser eine Pause einlege.“
„Wie viel wird mich d eine Prügelei dieses Mal kosten?“
Alain zog schwungvoll einen Stuhl vom Tisch weg, setzte sich rittlings darauf und schaute Beate voll freudiger Erwartung an. Unsicher wich sie seinem Blick aus, faltete umständlich ihre Serviette zusammen und wieder auseinander, unaufhörlich und mit einer bewundernswerten Ausdauer, bis sie das amüsierte Blitzen in Alains Augen gewahrte. Hastig legte sie den völlig zerknüllten Stoff zur Seite. Sie traute seiner unvermittelt an den Tag gelegten Heiterkeit nach dem Wutanfall in der Nacht nicht.
„ Nicht einen Franc, das kann ich dir versichern. Ich werde diesen verdammten Flic – er muss wohl meine Hand übersehen haben, als ich von der Kneipe nach Hause wollte und er meinen Weg gekreuzt hat – dafür zahlen lassen.“
„Idiot , verfluchter! Du lernst es wohl nie? Sie sollten dich ein für alle Mal aus dem Verkehr ziehen.“
„ Tz, tz, tz, Bruderherz, welch harte Worte an einem wundervollen Morgen in Gegenwart dieser noch viel schöneren Dame! Sollten wir uns diesen Dissens nicht besser für später aufheben?“
Beate verschoss – wieder einmal vergebens – ihre Giftpfeile in Alains Richtung. Wie konnte er bloß solch haarsträubenden Blödsinn von sich geben? Er musste doch genau wissen, dass er Pierre damit auf die Palme brachte. Was bezweckte er mit dieser Provokation?
„Möchtest du etwas essen , Alain? Ich mache dir gerne ein Brötchen zurecht.“ Sie hoffte inständig, durch belangloses Gerede ihren Ärger und ihre Angst am unauffälligsten überspielen zu können. „Oder lieber Croissant? Wie sieht es aus mit Kaffee?“
Dankbar lächelte er sie an und nickte. „Croissant und Kaffee. Das ist wirklich sehr nett von
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