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Toedliche Luegen

Toedliche Luegen

Titel: Toedliche Luegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansi Hartwig
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nicht blutsverwandt waren, äußerlich dafür eine verblüffende Ähnlichkeit aufwiesen. Sie hatten beide einen beeindruckenden Körperbau, waren außergewöhnlich groß und maskulin. Die Augen der Männer schienen sich je nach Laune und seelischer Verfassung von einem strahlenden Blau bis zu einem undurchdringlichen Schwarz zu verfärben. Pierre trug seine Haare in einem tadellos ausgeführten Schnitt und selbst die silbernen Strähnen darin ließen keinen Zweifel aufkommen, dass es vom gleichen glänzenden Blauschwarz war wie Alains schulterlanges Haar. Und auch in Bezug auf ihre Arroganz stand einer dem anderen in nichts nach.
    Waren sie vielleicht mehr als lediglich Adoptivbrüder?
    Und war es nicht geradezu absurd, dass Juliette trotz der angeblichen Vergewaltigung durch Alain auch weiterhin hier arbeitete? Beate wäre an deren Stelle nicht für Geld und gute Worte, mit denen Pierre sie angeblich überschüttet hatte, in diesem Haushalt geblieben. Irgendwie klang das alles nicht richtig. Es passte einfach nicht.
    Denn immer wieder schob sich das furchtbare Bild von Alains entblößtem, zerschnittenem Oberkörper vor ihr inneres Auge.
     
    „Guten Morgen, Alain. Wie war deine Nacht? Oh, verzeih, wenn ich dich mit meinem unwürdigen Dasein einmal mehr belästige. Aber ich habe mich gelangweilt so allein zu Hause und da kam mir die Idee …“ Beate unterbrach sich kichernd, kratzte sich am Hinterkopf und berichtigte sich mit einem zuckersüßen, falschen Grinsen: „In eurem Zuhause, meinte ich selbstverständlich. Und gerade in diesem Augenblick bin ich rein zufällig hier vorbeigekommen und dachte mir, ich statte meinem geliebten Onkel einfach mal einen Krankenbesuch ab. Ich hoffe, du erträgst meine Anwesenheit.“
    Obwohl sie sich einbildete, ihre Stimme hätte ziemlich gleichgültig und gelassen geklungen, klopfte ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Gütiger Himmel, dieses Gefühl ordinär als Aufregung zu bezeichnen, war die schamloseste Untertreibung, die ihr je über die Lippen gekommen war. Den ganzen Morgen über hatte sie es kaum aus dem Bad geschafft und selbst jetzt noch war ihr richtiggehend schlecht.
    Natürlich hatte sie Angst! Angst davor, Alain könnte im nächsten Moment einen Tobsuchtsanfall bekommen oder sich in wüsten Beschimpfungen verlieren wie am Tag zuvor. Oder dass er aus seinem Bett springen und wie ein Raubtier über sie herfallen könnte. Vielleicht würde er sie lediglich an den Haaren aus dem Zimmer schleifen, wenn sie viel Glück und er heute seinen guten Tag hatte. Es war ihr selbst ein Rätsel, warum sie sich unbedingt aufs Neue in selbstmörderischer Absicht in den Löwenzwinger begeben musste. Sie konnte sich nicht erinnern, in der Nacht zuvor von Mut geträumt zu haben.
    Sie wagte nicht aufzublicken, sondern betete eifrig um göttlichen Beistand, während sie geschäftig im Badschrank nach einer Blumenvase kramte. Umso größer war ihre Verwunderung, als sie bloß ein schwaches Knurren aus Alains Richtung vernahm, das sich in etwa als: „Wie ich Krankenbesucher hasse!“ deuten ließ.
    Sie kicherte vergnügt. „Muss ein früher Anfall von Senilität sein.“
    „Was?“
    „Dass du dich am laufenden Band wiederholst.“ Sie warf ihm über die Schulter eine Kusshand zu. „Tu was dagegen, wenn du kannst, Alter.“
    „Ich … ich werde es … ertragen. Du wirst nicht … ewig … bleiben.“
    Sie hatte sich während eines langen Vormittags mental gegen mögliche Gemeinheiten gewappnet und auf entschieden mehr Widerstand eingestellt. Ja, sie hatte sich unerklärlicherweise im Stillen sogar auf ein weiteres hitziges Wortgefecht mit Alain gefreut. Und nun enttäuschte er sie nach allen Regeln der Kunst mit einem einseitig ausgerufenen Waffenstillstand. Der Frieden, der plötzlich in diesem Zimmer herrschte, passte einfach nicht in ihr Konzept. Alain verfügte ohne Zweifel über ein todsicheres Gespür dafür, stets das Unerwartete zu tun und mit dieser Unberechenbarkeit seine Umwelt zu schockieren.
    Just in dem Moment, als sie zu der Frage ansetzen wollte, ob er krank sei, weil er heute jegliche bösartigen Äußerungen unterließ, blickte sie verstohlen zu ihm. Grundgütiger, wieso fiel ihr erst jetzt diese unnatürliche Blässe auf? Alains Haut war grau und die ohnehin schmalen Wangen schienen noch mehr eingefallen zu sein. Feine Schweißperlen bedeckten seine Stirn.
    Si e verschluckte instinktiv einen Kommentar und trat mit der Vase in der Hand einen Schritt näher an

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