Toedliche Luegen
interessiert lediglich, dass er lebt. Aber ist es denn verwerflich, wenn ich herausfinden will, wo diese Organe herkommen? Und gerade jetzt, nachdem ich diesen Artikel gelesen habe, lässt mir diese Frage keine Ruhe. Ich muss es ganz einfach wissen. Deswegen bin ich hier, Madame Lubeniqi, weil Sie es mir sagen können.“
„ In Deutschland werden Organe von Verstorbenen, die zu Lebzeiten ihren dementsprechenden Willen geäußert haben, entnommen. Allerdings besitzt nicht einmal jeder Fünfte einen Spenderausweis. Bei Ferrard dagegen stammen die verpflanzten Organe zumeist von Unfallopfern, die vor ihrem Tod nicht ausdrücklich erklärten, dass sie einer Organentnahme widersprechen. So werden aus zwanzig Prozent möglichen Spendern plötzlich fünfzig, sechzig oder mehr.“
Renée Lubeniqi trat vor ein niedriges Schränkchen und öffnete dessen Tür. Im Unterbewusstsein registrierte Beate eine wohl sortierte Bar, die sich dahinter verbarg.
„Was darf ich Ihnen zum Kaffee anbieten? Mögen Sie café français ?“
Beate hob den Kopf, verwirrt, als hätte sie jemand aus dem Schlaf gerissen.
„Cognac?“, wiederholte die Journalistin.
Beate nickte geistesabwesend. „Und von wem stammen die restlichen Organe? Sie sagten, die meisten seien von Unfallopfern. Und die, die nicht von solchen Spendern kommen?“
Die Stirn der älteren Frau legte sich in Falten, während sie zwei Gläser und eine Flasche auf den kleinen Tisch stellte. „Spätestens an dieser Stelle sollten Sie wirklich aufhören zu fragen. Ich habe es damals nicht getan. Und Sie sehen ja selbst, was aus dem erfolgreichen Journalisten René Lubeniqi geworden ist.“
„Was haben Sie herausgefunden?“
R enée trank ihre Tasse leer und goss sie halb voll mit Cognac, den sie mit etwas Kaffee auffüllte. Nach einem langen Schluck begann sie von jenen Ereignissen zu erzählen, die sie fast das Leben gekostet hatten.
„Bei meinen Recherchen stieß ich auf einen Landstrich in Gabun, in dem eine auffällig große Anzahl von Männern und Jugendlichen lebt, die alle an der gleichen Stelle ihres Körpers eine Narbe haben. Ganz stolz berichteten sie mir von dem Krankenhaus, in dem ihre Familien kostenlos behandelt werden, von dem Vieh, das sie sich plötzlich kaufen konnten, nachdem der weiße Arzt in ihr Dorf gekommen war. Sie schwärmten von den Brunnen, die die Bewohner mit sauberem Wasser im Überfluss versorgen und mit denen sie sogar ihre Felder bewässern können. Dass es sich dabei nicht um das Urwaldhospital von Lambaréné handelt, ist Ihnen sicherlich klar.“
Renée hi elt inne und schaute Beate in die schreckgeweiteten Augen. „Ich sehe, ich muss nicht deutlicher werden. Diese Menschen haben einen Teil von sich für das Überleben ihrer Familien verkauft. Aber kann man diesen armen Teufeln einen Vorwurf daraus machen? Die Lebenserwartung hat sich trotz der fragwürdigen chirurgischen Eingriffe innerhalb kurzer Zeit beträchtlich erhöht, seit vor allem die Kinder nicht mehr durch den Genuss verschmutzten Wassers erkranken und mangels der erforderlichen Hygiene sterben. Allerdings … Ich habe vereinzelt Fälle erlebt, in denen sie sich nicht freiwillig unter das Messer des Chirurgen legten.“
Beate unterdrückte einen Schreckenslaut und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Wem hatte die Niere gehört, die Alain jetzt ein einigermaßen normales Leben ermöglichte? Wessen Leben musste dafür zerstört werden?
20 . Kapitel
Seit sich Beate bis über beide Ohren in ihre Arbeit vergraben hatte, verging für sie die Zeit wie im Flug. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit hatte sie sich dem aufregenden Treiben in der Großstadt angepasst, welche ihr inzwischen gar nicht mehr exotisch und unerträglich vorkam wie an ihrem ersten Tag.
Obwohl er die Niederlage bei der Jobsuche seiner Tochter nicht völlig verwunden hatte, war Pierre Germeaux unablässig in rührender Art und Weise um ihr Wohlbefinden bemüht. Nie zuvor hatte Beate die ihr entgegengebrachten Freundlichkeiten und Beweise der Zuneigung so genossen wie in jenen Wochen. Allerdings konnte sie sich auch nicht erinnern, je diese Aufmerksamkeit durch ihren deutschen Vater erfahren zu haben. Es verging kaum ein Tag, an dem Pierre sie nicht mit großen oder kleinen Geschenken überraschte, um ihr die Vorzüge eines Lebens in Paris und vor allem in seinem Haus deutlich zu machen.
Und dann gab es natürlich ihre Arbeit, die ihr nicht bloß ein ansehnliches Taschengeld und nette
Weitere Kostenlose Bücher