Tödliche Märchen
irgendwo zu finden sein. Aber das ist nicht der Fall.«
Trotz des Toten schaute sie sich jetzt um.
»Es gibt nur eine Lösung«, sagte Ruth. »Der Mörder hat sie gestohlen, um Spuren zu verwischen.«
»Das war dumm von ihm. Wir wären doch immerauf seine Spur gestoßen.«
»Weiß man, wie es in seinem Kopf aussieht?«
»Sie sind über den geschäftlichen Vorgang informiert, Miß Atkins?« erkundigte ich mich.
»Ja, das bin ich.«
»Mrs. Gardener hat das alte Haus also gekauft. War es auch im Prospekt abgebildet?«
»Selbstverständlich.«
Ich holte einen herbei und schlug ihn auf, während Ruth Finley schon die Kollegen von der Mordkommission anrief.
Das Haus war auf der dritten Seite abgebildet. Ich las auch die Adresse. Es lag in Hanworth, südöstlich des Flughafens. Gehört hatte es einmal einem Adeligen, der sein Geld aber in Spielbanken durchgebracht hatte.
»Das sieht ja nicht schlecht aus«, sagte ich.
»Was meinen Sie damit?«
Ich lächelte Susan Atkins zu. »Beides. Die Spur und auch das Haus.«
Dann schaute ich auf die Uhr.
Ruth hatte mich beobachtet. »Es wird Zeit, nicht wahr?«
»Und wie.«
Obwohl wir es so eilig hatten, mußten wir noch das Eintreffen der Mordkommission abwarten. Man schaute mich überrascht an, und sofort wurde mir die Standardfrage gestellt.
»Sind Geister mit im Spiel?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, tun Sie mal Ihre Pflicht. Ich muß weg.«
»Gehen Sie, John. Den Bericht lassen wir ihnen zukommen.«
»Danke.«
Wir verabschiedeten uns auch von Susan Atkins, die wieder zu weinen angefangen hatte. Im Treppenhaus sagte ich: »Allmählich dreht diese Märchentante durch.«
Ruth Finley nickte. »Ja, das scheint mir auch so.« Über ihren Sohn Jason sprach sie nicht. Ich aber wußte, daß sie ständig an ihn dachte…
***
Noch fühlten sich die Kinder wohl.
Sie hatten es genossen, mit einem Rolls Royce durch London zu fahren. Sie selbst konnten durch die Fenster schauen, wurden aber von außen nicht gesehen.
Außerdem verstand es Gradma Gardener, sie abzulenken. Sie hatte eine Kassette in den Recorder geschoben, und die heißen Poprhythmen sorgten für Stimmung.
Drei Kinder konnten sich im Fond räkeln und sogar ihre Beine ausstrecken, soviel Platz bot der Wagen. Sie hörten auch den Motor nicht, sie schienen wie auf einem Gleis dahinzugleiten. Allmählich wich die Innenstadt. Die Gegend wurde ländlicher, waldreicher und leerer.
Als die Kassette durchgelaufen war, stellte Ernie Grey eine Frage. »Wo bringen Sie uns eigentlich hin?«
Mrs. Gardener lachte. »Das ist ganz einfach. In mein tolles Haus oder in das Studio.«
»Wie?«
»Ja, die Sendungen werden in meinem Haus aufgezeichnet. Da herrscht die richtige Atmosphäre.«
»Ist es groß?« fragte Nicole vom Rücksitz her.
»Riesig.« Grandma Gardener beschrieb das Gebäude nur in Superlativen, so daß die Kinder auf das Haus regelrecht gespannt wurden.
Sie mußten sich noch gedulden. Das Schild Hanworth lasen sie. Tiggy wußte Bescheid. »Jetzt verlassen wir London!« sagte er. »Wir sind auch gleich da.«
»Das gehört noch zu London!« widersprach Ernie.
»Richtig!« lobte ihn die Märchentante. »Zu Groß-London.«
Nur einer hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Es war Jason Finley. Er hockte dicht am Fenster und starrte mit bleichem Gesicht durch die Scheibe. Ihm ging das Erlebnis der vergangenen Nacht nicht mehr aus dem Kopf. Immer mußte er daran denken, und er sah die Märchentante mit dem grünlichen Skelettschädel und dem Messer in der Hand vor sich. Sie hatte sein Blut gefordert, es in der Nacht aber nicht bekommen. Da hatte man ihm geholfen. Würde es heute auch so sein? Nein, niemand wußte, wohin sie fuhren. Sie waren dieser Frau ausgeliefert.
Obwohl der Junge dies wußte, fand er nicht die Kraft, sich dagegen zu stemmen. Er formulierte die Worte zwar in seinem Hirn, nur gelang es ihm nicht, sie auszusprechen.
Da bestand eine geistige Sperre, die ihn daran hinderte. Allmählich geriet er ins Schwitzen, obwohl der Wagen mit einer Klimaanlage ausgerüstet war, die die Temperatur konstant hielt. Er wußte ja, was bevorstand, die anderen aber nicht. Sie hatten sich die Kassette nicht bis zum Ende ansehen können.
»Wenn wir um die nächste Kurve fahren, könnt ihr das Haus schon sehen«, erklärte die Frau. »Es liegt etwas abseits an der rechten Seite der Straße.«
Die Kinder schauten in eine Richtung, und sie bemerkten nicht den eiskalten Zug, der die Lippen der
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