Tödliche Märchen
werde euch jetzt die Überschrift vorlesen. Wie es möglich ist, durch die Hölle den Tod zu überwinden…«
Sie wartete die Reaktion der Kinder ab, aber keiner gab einen Kommentar.
Grandma Gardener lächelte. »Wie schön. Ich sehe, daß euch das Thema gefällt. Mir gefällt es auch, denn es wird uns einiges bringen. In den folgenden Zeilen steckt eine tiefe Wahrheit.« Sie nickte sich selbst zu und begann mit ihrem Vortrag. »Wer mit den Toten in Kontakt treten will, muß wissen, daß es nicht nur das Licht gibt, sondern auch die Dunkelheit. Ich meine nicht die Finsternis, die den Tag ablöst, nein, es ist eine andere Dunkelheit, die wohl keiner von uns kennt. Eure Eltern haben davon gesprochen, eure größereren Geschwister vielleicht, aber auch die Großeltern. Es ist der Tod.«
Sie legte eine Kunstpause ein und ließ die Worte wirken. Auf den Gesichtern der jungen Zuhörer lag schon jetzt eine Gänsehaut. Die Märchenoma lächelte. »Ja, der Tod. Vor ihm fürchten sich die meisten Menschen, aber das brauchen sie nicht. Er ist nicht endgültig, er kann zwar endgültig sein, was das Leben auf dieser Welt angeht, aber wer schon in jungen Jahren die anderen Gesetze kennt und sich nach ihnen richtet, kann ihn überwinden. Um dies zu schaffen, muß man sich in den frühen Jahren einen guten Freund suchen.« Sie beugte sich vor und schaute die Kinder an. »Kann mir einer von euch sagen, wen ich wohl damit gemeint habe?«
Jason Finley gab die Antwort. »Das ist der Teufel!«
Grandma Gardener lachte keifend. »Ja, du hast es erfaßt, mein Junge. Du bist bereits auf dem richtigen Weg. Aber du verfügst ja auch über eine gewisse Erfahrung, wenn ich da an die letzte Nacht denke. Die anderen müssen noch lernen.« Sie schaute wieder auf ihre Seiten. »Wer schon als Kind über seinen eigenen Schatten gesprungen ist, den wird der Tod nicht mehr schrecken. Im Gegenteil, er freut sich darauf, denn er weiß, daß ihn der Freund nach dem Ableben empfängt. Er wird ihn in sein Reich geleiten und ihm alles zeigen. Es gibt nur wenige Auserwählte, mich aber hat der Höllenfürst ausersehen, und ich habe mich an euch gewandt, damit ihr die ersten seid, die die Angst vor dem Tod verlieren. Aber alles hat seinen Preis. Ihr müßt zuvor noch einige Bedingungen erfüllen, daran führt kein Weg vorbei. Ich habe Jason in der vergangenen Nacht zum Friedhof bestellt, weil er mit seinem toten Vater sprechen wollte. Leider ist etwas dazwischen gekommen, doch heute wird uns niemand stören. Um euch die Angst zu nehmen, dürft ihr mit den Menschen sprechen, die euch einmal lieb und teuer gewesen sind und an denen ihr sehr hängt. Haben wir uns verstanden?«
Die Zuhörer gaben keine Antwort. Sie standen noch zu sehr unter dem Eindruck der Worte. »Nicht verstanden?«
Ernie hob die Schultern. »Es ist alles so verflixt schwierig, Grandma Gardener.«
»Ja, das weiß ich. Einfach ist es wirklich nicht, aber wir kommen schon zusammen.«
»Und was sollen wir tun?«
»Euch dem Höllenfürsten zuwenden.«
Die Antwort schockte die Kinder. Bisher hatte Mrs. Gardener mehr allgemein gesprochen, nun aber stellte sie konkrete Forderungen, und jeder Zuhörer hatte natürlich von der Hölle und dem Teufel schon gehört. Sie waren das Negative, das Böse. Man hatte sie gelehrt, es abzulehnen, sich unter keinen Umständen damit einzulassen, und jetzt verlangte man von ihnen, daß sie sich damit abgaben.
»Ihr sagt nichts?« fragte die Märchenoma.
Nicole, Tiggy und Ernie schauten auf Jason. Er hatte bereits gewisse Erfahrungen gesammelt. Aber auch Jason schwieg. Dabei war er sehr blaß geworden. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Lir mußte wieder an die vergangene Nacht denken.
»Denkt an die Kassette«, flüsterte die Frau. »Ihr habt sie bekommen, ihr habt sie gesehen. Ein jeder von euch war mit den Dingen einverstanden — oder nicht?«
Sie nickten.
»Na seht ihr. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.« Sie deutete auf das Buch.
»Was hier geschrieben steht, ist die Wahrheit. Dieses Buch verheißt Kraft, es nimmt euch die Furcht, und es ist im Gegensatz zu den Geschichten, die ich im Fernsehen vorlese, kein Märchen. Das hier ist echt!« Zur Bestätigung der Worte schlug sie mit der flachen Hand auf das Buch.
Die Kinder schwiegen. Nicole Winter schielte wieder zur Tür, als wollte sie jeden Moment aufspringen und wegrennen.
Mrs. Gardener hatte den Blick bemerkt. »Wolltest du nicht mit deiner verstorbenen Patentante sprechen, kleine Nicole? Hast
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