Tödliche Märchen
Darauf hatte Jason gewartet.
Durch entgegengesetzte Drehungen wickelte er seine Jacke wieder vom Arm weg und schleuderte sie dann der unheimlichen Märchentante entgegen. Sie klatschte gegen die obere Hälfte des Körpers und bedeckte auch zwangsläufig den häßlichen Schädel.
Jetzt konnte sie nichts mehr sehen. Der Junge aber wuchs über sich selbst hinaus, wobei er sich wunderte, daß er überhaupt den Mut dazu fand. Er griff Grandma Gardener an.
Und er sprang gegen sie, so daß sie nach hinten gestoßen wurde. Sie hatte nichts sehen können, ein Ausweichen war ihr ebenfalls unmöglich gewesen, und durch den plötzlichen Druck kippte sie taumelnd zurück, bis hin zum Schaukelstuhl, gegen den sie rücklings fiel. Jason hatte sich Zeit verschafft. Er drehte sich um, weil er sehen wollte, was seine Freunde taten. Die standen da und staunten.
»Los, geht auch. Weg hier!« Die gehetzt gesprochenen Worte hatten ihren Grund, denn die Gardener begann damit, sich wieder aus der Jacke zu wickeln. Dabei stieß sie drohend und auch grunzend klingende Laute aus.
Noch hatte sie Schwierigkeiten mit der Jacke, da diese sich irgendwo verfing. Aber sie drehte sie so geschickt, daß sie das Kleidungsstück schließlich wegschleudern konnte.
Und sie stand auf.
Jason sah nicht in ihre Richtung. Er schaute auf die Rücken seiner beiden Freunde, die, ebenso wie Nicole, über die Eisenträger balancierten.
Für Jason wurde es Zeit. Auch er trat über die Schwelle und drückte sich nach links, wo ein schmaler Sims an der Mauerkante entlanglief. Erst vier Schritte weiter wurde er im rechten Winkel von einem rostigen Eisenträger getroffen.
Der Junge wäre gern weiter über den Sims gelaufen. Leider war es unmöglich, denn ein Stück war abgebrochen. Die Trümmer mußten unten in der Düsternis des Kellers liegen.
Es wurde immer kritischer. Die Zeit drängte. Sie saß allen wie eine Peitsche im Nacken.
Am weitesten war Nicole auf »ihrem« Eisenträger gekommen. Aber auch sie war noch nicht in Sicherheit, sondern in der Mitte der Fläche, wo sich zwei Träger zu einem Kreuz getroffen hatten.
Nicole hatte furchtbare Angst bekommen. Sie konnte nicht mehr weitergehen. Sie hockte nur da und schluchzte vor sich hin.
»Geh endlich. Mach den Weg frei!« hörte sie Ernies Stimme, doch sie schüttelte nur den Kopf.
Jason preßte sich derweil mit dem Rücken gegen die rauhe Wand. Er schielte vor seine Füße und hatte Angst davor, daß der Sims seinem Gewicht nachgeben würde.
Den Träger aber wollte er auf jeden Fall erreichen. Ernie und Tiggy hatten einen besseren Blick zur Tür hin, und sie warnten Jason auch.
»Du mußt dich beeilen!« gellte Tiggys Stimme.
Noch einen Schritt bis zum Träger. Dicht dahinter war der Sims abgebrochen.
Da erschien sie. Jason hatte noch nach rechts geschaut. Sein Gesicht wirkte wie eingefroren, die Augen waren weit geöffnet, in ihnen nistete die nackte Angst. Sie stand in der Tür, schob ihren häßlichen Schädel vor und drehte ihn nach links.
Sie starrten einander an. Grandma Gardener grinste. Der Junge ging verzweifelt einen Schritt vor und betrat den Träger. Leider war er dünner als die anderen…
***
In den folgenden Sekunden tat ich nichts, weil ich einfach von den Erinnerungen überwältigt wurde. Kaskadenartig überfielen sie mich. Das Bild vor meinen Augen verschwamm und schuf einem anderen Platz.
Auch so ein Haus. Ähnlich groß, mit einem geheimnisvollen und tiefen Keller versehen. Und in der Mitte des Kellers eine gewaltige Masse, eine Art von Urschleim und Urzelle, die sich bewegte, die denken konnte und gefährliche Kräfte besaß. [2]
Lilith, die Große Mutter!
Wie auch hier.
Nur diesmal als Krake, aber ihr Gesicht sah ich. Es wirkte so kalt und abstoßend, hatte im Prinzip Ähnlichkeit mit dem absoluten Höllenfürsten Luzifer.
Mit ihrer Existenz hatte ich am allerwenigsten gerechnet, und ich tauchte wieder aus den tiefen Tunneln der Erinnerung hoch in die Sphären der Realität.
Eine Frage gellte neben meinem Ohr auf. »Wer ist das, John? Verdammt, sagen Sie doch was!«
Klar, daß Ruth Finley nicht mehr wußte, woran sie war. Sie sah einen Kraken vor sich mit einem widerlichen Gesicht in der weichen Masse, wo die Züge bei jeder Bewegung verschwammen, sich veränderten, um wieder neue Formen zu bilden.
»Gehen Sie zurück!« fuhr ich sie an. »Sofort…!«
Sie gehorchte zum Glück. Ich aber ging vor. Meine Waffe konnte ich in der Halfter lassen, nicht das Kreuz.
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