Tödliche Märchen
gegen den Boden preßte. Er hörte noch das gurgelnde Geräusch aus dem Maul dringen, dann riß er Nicole zurück und befreite sie aus den Klauen der mordenden Bestie.
Sie stolperte gegen ihn und in seine ausgebreiteten Arme. Er ließ sie nicht dazu kommen, erst lange zu schluchzen. Sie mußten weg und den zweiten Ausgang finden.
Ernie und Tiggy waren schon vorgelaufen und hatten etwas entdeckt.
»Eine Tür!« brüllte Ernie. »Hier ist sogar eine Tür.«
Eröffnete sie erst, als auch Nicole und Jason bei ihnen standen. Den ersten Schritt wollte er über die Schwelle treten, als Tiggy ihn zurückhielt.
Er hatte die Kälte bemerkt, die ihnen entgegenwehte, und er sah auch jetzt, was im grauen, durch Löcher im Dach sickernden Dämmerlicht vor ihnen lag.
Eine Deckenkonstruktion aus Eisenträgern, die ein schachbrettartiges Muster mit sehr großen Abständen zueinander bildeten. Dazwischen war genügend Platz, um in die dunkelgraue, unheilvolle Tiefe eines Kellers fallen zu können…
***
Die vier unzertrennlichen Freunde blieben stehen, waren geschockt und wurden totenbleich. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Ihre Blicke glitten in die Höhe. Andere Etagen fehlten völlig, es waren keine Zimmer zu sehen, nur die Dachkonstruktion, die in diesem Teil des Hauses große Lücken aufwies.
Das Dach wurde von dicken Holzbalken und Stützträgern gehalten, die noch sehr stabil aussahen.
»Wohin?« fragte Tiggy.
Er hatte dabei Jason Finley angeschaut, und der hob die Schultern. Auch er bekam schreckliche Angst. »Ich weiß nicht, ob wir vor-oder zurückgehen sollen?«
»Zu dem Kraken?« schrie Ernie. »Niemals. Nein, da kriegt mich keiner hin.«
»Wo landen wir denn hier, wenn wir über die Eisenträger gehen?« fragte Tiggy.
»Dort ist ein Sims!« flüsterte Jason. »Vielleicht auch eine Tür. Jedenfalls erkenne ich einen schwachen Ausschnitt.«
Nicole hatte dem Gespräch zugehört, sich dabei aber gedreht, so daß sie in das Zimmer blicken konnte.
Und sie sah Grandma Gardener.
»Sie kommt!« flüsterte das Mädchen. »Mein Gott, sie kommt. Sie wird uns vernichten…« An Jasons Arm klammerte sie sich fest. »Schnell, wir müssen weg!«
Die Kinder hörten bereits das Lachen der Frau mit dem Totenschädel. Sie hatte noch längst nicht aufgegeben.
Jason wollte Nicole zuerst losschicken und drückte sie vor. »Schau mal auf den Träger vor deinen Füßen. Er ist ziemlich breit und läuft bis zur anderen Seite durch. Er wird auch von anderen Trägern gekreuzt, da kannst du dich fast ausruhen — okay?«
»Ja.«
»Traust du dir das zu?«
»Ich muß ja.«
»Dann geh zuerst.«
»Wenn ich tot bin, Jason, sagst du dann meinen Eltern alles?«
»Klar, geh schon.«
Auch der Junge hatte Angst, und seinen Freunden erging es ebenso, denn die Alte kam wieder.
Inzwischen betrat Nicole den Eisenbalken. Er hatte ziemlich breit ausgesehen, doch jetzt, als sie mit beiden Füßen darauf stand, hatte sie das Gefühl, auf einem dünnen Seil zu stehen, das zudem noch schwankte. Sie breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, und es klappte auch. Viel kam jetzt auf sie an. Wenn sie zu lange zögerte, verringerte sich die Chance der anderen.
Deshalb ging sie weiter.
Zitternd, schwankend, die Augen nach vorn und nicht nach unten gerichtet.
Den zurückbleibenden Jungen, deren Blicke zwischen Mrs. Gardener und ihrer Freundin Nicole pendelten, war klar, daß sie es nicht schaffen würden.
Die Horrortante war einfach schneller. Und sie brachte den Tod. Aus dem Maul des Totenschädels drangen zischende Laute. Die rechte Hand mit dem Messerstach noch ins Leere, aber es dauerte nur Sekunden, bis sie den ersten, Jason, erreicht hatte.
»Dir geh ich zuerst an die Kehle, Kleiner!« versprach sie mit rauher Flüsterstimme.
Der Junge wäre am liebsten weggelaufen. Da er dies nicht verantworten konnte und es auch wußte, erinnerte er sich plötzlich an eine Szene, die er mal in einem Film gesehen hatte.
Die beiden anderen Freunde schauten überrascht, als Jason seine dicke Jacke auszog und sie so rasch wie möglich um seinen rechten Arm wickelte.
Damit konnte er unter Umständen einen ersten Messerangriff abwehren. Die Märchenoma stach zu. Von unten wischte die lange Klinge auf Jason zu, doch er senkte seinen rechten Arm, so daß das Stilett die Jacke traf, aber am Arm des Jungen vorbei wischte.
Aus dem Skelettmaul drang ein ärgerliches Geräusch. Grandma Gardener sprang zurück und zog die Klinge wieder hervor.
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