Tödliche Märchen
schon mehrere Male gegangen, und sie machte dem Jungen klar, daß er gegen sie keine Chance hatte.
»Ich kriege dich, Bürschchen!« flüsterte sie, sich dabei an der Wand vorschiebend. »Ich kriege dich schon. Im Höllenfeuer sollst du schmoren…« Aus dem Schädelmaul drang das harte, keuchende Lachen.
Jason stand auf dem Träger. Er hatte den Oberkörper etwas vorgebeugt, die Arme dabei ausgestreckt, um das Gleichgewicht halten zu können. Dennoch zitterte er. Angst lag in seinem Blick. Er schielte zurück und auch in die Tiefe, in der er nichts erkennen konnte.
Von seinen drei Freunden wurde er beobachtet. Sie befanden sich in relativer Sicherheit. Nicole Winter hockte noch immer dort, wo sich die beiden Träger trafen. Tiggy hatte sich auf den Träger gelegt und klammerte sich daran fest. Ernie Grey hockte. Knie und Hände berührten den Eisenträger.
Nur Jason stand noch.
Und die Bestie kam.
Sie schob sich voran. Zentimeter für Zentimeter holte sie auf, kam näher, lachte böse. Der Schädel bewegte sich, und mit dem nächsten Schritt erreichte sie den Träger.
Den rechten Fuß setzte sie zuerst auf.
»Siehst du, Junge, jetzt werde ich dich holen.« Sie zog den linken Fuß nach.
Jason wurde übernervös. Er mußte weg. Die Vorwürfe kamen automatisch. Er hätte sich nicht diesen Träger aussuchen sollen. Der war einfach zu schmal. Man konnte nur laufen, wenn man sich sehr vorsichtig bewegte.
Er hatte sich zur Seite gedreht und stand da wie ein Fechter. Nur hielt er keine Waffe in der Hand, dafür hatte er sich aufgerichtet, den Rücken durchgedrückt und schob sich Zentimeter für Zentimeter weiter. Er schaute nicht mehr zurück, wollte die Frau nicht sehen und auch nicht seine Freunde, die um ihn zitterten. Nicole am meisten.
»Bitte, Jason!« flüsterte sie. »Du mußt es schaffen. Sie darf dich nicht kriegen.«
Das Mädchen war verzweifelt. Sie wollte nicht hinschauen, es war wie ein Zwang, der sie den Kopf heben ließ, und so bekam sie mit, wie sich die Distanz zwischen den beiden verkürzte. Es war nur mehr eine Frage von Sekunden, bis es der Gardener gelang, Jason vom Träger zu stoßen.
Danach würde sie kommen, um die anderen Kinder zu holen!
»Jason, beeil dich doch…« Das Mädchen preßte den Satz hervor und ballte die Hände zu Fäusten, in ihren Augen schimmerte es feucht, sie flehte und betete in einem.
»Bald!« versprach die Gardener mit rauher Stimme. »Bald habe ich dich. Dann bist du verloren, aber für die Hölle gewonnen. Wir werden dich schon…«
»Nein!« schrie Jason. »Nein, geh weg.« Er hatte den Kopf gedreht und starrte Grandma Gardener ins Gesicht.
Fast zum Greifen nahe sah er den Schädel vor sich. Er war widerlich und sturzhäßlich. Zum ersten Mal sah er ihn aus unmittelbarer Nähe. Das Maul stand offen. Ein klaffendes Loch, der Eingang zu einem Schlund, in dessen Tiefe ein unheimliches Feuer zu lodern schien. Jedenfalls hatte Jason den Eindruck, Flammen zu sehen.
»Noch einen Schritt, mein Kleiner!« versprach die Gardener. »Dann habe ich dich…«
Das sah auch Nicole. Sie konnte nicht mehr hinschauen, denn die Frau mit dem Totenschädel war dabei, ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Sie war diesen Schritt gegangen und hatte auch den Arm ausgestreckt. Jetzt brauchte sie nur noch zuzugreifen. Nicole drehte den Kopf weg. Sie konnte zur Tür schauen und sah dort die Umrisse einer Frau.
Zuerst wollte sie es nicht glauben, vielleicht spielten ihr die Nerven einen Streich, aber es war tatsächlich Jasons Mutter, die da in der offenen Tür stand und den rechten Arm anhob.
Sie hatte eine Pistole!
Nicole hielt den Atem an…
***
Ruth Finley wunderte sich selbst darüber, wie eiskalt sie in diesem Moment war. Sie hatte die Lage mit einem Blick erfaßt, obwohl sie so unglaublich war.
Die Kinder waren da, hockten auf diesen Trägern, auch Jason, ihr Sohn. Er befand sich in höchster Lebensgefahr. Dicht vor ihm stand die Märchentante mit dem grünen Skelettschädel, von dem Jason schon berichtet hatte.
»Da sind die Kinder!«
Ruth schrie den Satz mit lauter Stimme. Sie wollte ihren Kollegen warnen. Dann schoß sie.
Zwei Kugeln befanden sich noch im Magazin. Die Frau kam sich vor wie auf dem Schießstand. Den rechten Arm ausgestreckt, nicht verkrampft, das Gelenk durch die linke Hand unterstützt, und sie wunderte sich selbst über ihre innerliche Ruhe.
Noch nie zuvor hatte sie auf einen Menschen schießen müssen. Bisher war alles Training gewesen, doch
Weitere Kostenlose Bücher