Tödliche Mitgift
erwartete, war nicht John Wilhelm Dreyling, wie sie zunächst gedacht hatte. Trotz der miserablen Lichtverhältnisse vor den Fahrstühlen sah sie sofort, dass der Mann etwa dreißig Jahre jünger war als John Dreyling, eine leicht verzerrte Kopie seines Vaters. Er stellte sich als Ole Dreyling vor, Annegret Dreylings Ehemann oder Witwer, wie sie erst vor ein paar Minuten zweifelsfrei erfahren hatte. Ein altmodischer Ausdruck, der überhaupt nicht zu dem jungenhaften Mann in Jeans, gestreiftem Hemd und dem hellen Jackett passte.
»Ich bin gerade erst aus São Paulo eingetroffen«, sagte er nach einem kalten, schlaffen Händedruck. »Mein Vater hat mir mitgeteilt, dass Sie meine Ansprechpartnerin bei der Polizei sind – wegen dem, was vermutlich mit Annegret … meiner Frau, meine ich … passiert ist.«
»Das ist korrekt«, antwortete Pia, »wir können nach oben in mein Büro gehen. Kommen Sie.« Obwohl sein Haar vom Duschen noch feucht zu sein schien und er penibel und frisch gekleidet aussah, roch Pia den unverkennbaren Geruch von Angstschweiß, als sie neben ihm in der engen Fahrstuhlkabine stand. Im Profil betrachtet, war er seinem Vater recht ähnlich: Er hatte die typische ausgeprägte Dreyling-Nase, doch wo sein Vater kantig und kraftvoll aussah, wirkten Ole Dreylings Züge wie verwaschen – weich, konturlos, irgendwie unfertig. Seine Augen waren gerötet und standen etwas hervor, was Pia an ein verängstigtes Meerschweinchen denken ließ. Pfui, schalt sie sich selbst. Der Mann hat vermutlich einen schweren Verlust, zumindest aber einen Schock erlitten. Sie führte ihn den Gang entlang zu ihrem Büro, und da sie gerade allein dort arbeitete, überlegte sie auf dem Weg dorthin, wen sie bei dem anstehenden Gespräch dabeihaben wollte. Sie sah auf dem Weg in Gerlachs Büro und traf ihn, die Füße auf dem Schreibtisch und sein zweites Frühstück vor sich, an seinem Platz an. »Kannst du gleich zu mir rüberkommen? Herr Dreyling ist gerade hier eingetroffen und möchte mit uns reden.«
»Was, einer von den Dreylings?« Michael Gerlach wischte sich die Krümel vom Mund. Pia runzelte verärgert die Stirn, da sie nicht wollte, dass ihr Kollege weitere unqualifizierte Bemerkungen machte, solange der zu Befragende direkt hinter ihr stand. Gerlach begriff sofort und räusperte sich. »Jetzt gleich?«, fragte er in einem anderen Tonfall.
»Wenn es möglich ist …«
»Gib mir zwei Minuten«, bat er und griff nach der Limonadenflasche auf dem Tisch, um sein zweites Frühstück herunterzuspülen.
Pia führte Ole Dreyling in ihr Büro und zog noch einen Stuhl an den Besprechungstisch heran. Der junge Mann setzte sich umständlich. Sein großer Adamsapfel hüpfte auf und nieder, und seine Augen schienen jeden Quadratzentimeter der neuen Umgebung auf mögliche Gefahrenquellen hin abzusuchen.
»Möchten Sie einen Kaffee, Herr Dreyling?«, fragte sie und setzte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich könnte nämlich auch gerade einen vertragen.« Der Spruch war eine harmlose Taktik, gern auch in Verkäuferkreisen verwendet, die Pias Erfahrung nach fast immer funktionierte. Wenn man eine vermeintliche kleine Schwäche preisgab, konnte das einem verunsicherten Menschen ein wenig die Hemmungen nehmen.
»Nein, danke. Ich trinke nur Tee.«
»Dann bringe ich Ihnen einen Tee mit. Schwarz oder grün?«
In diesem Moment kam Gerlach herein und begrüßte ihren Zeugen auf seine übliche forsche Art, die Ole Dreyling noch weiter in seinem Stuhl zusammensacken ließ. Immerhin ermöglichte sein Erscheinen Pia, das Büro zu verlassen, ohne Ole Dreyling mit der Akte seiner Frau im Raum allein lassen zu müssen. Sie warf den letzten Teebeutel aus der zerdrückten Packung in einen Becher mit heißem Wasser und trug ihn zusammen mit dem bereits fertigen Kaffee in ihr Büro. Nachdem sie den Tee vor Ole Dreyling abgestellt und Michael Gerlach und sich selbst Kaffee eingeschenkt hatte, setzte sie sich an ihren Platz. Gerlach hatte sich in seine Rolle gefügt und vor einem der Rechner Platz genommen, um mitzuschreiben. Seit ihrem Fall in Kirchhagen und dem Vorfall im Haus der Mühlbergs harmonierten sie als Kollegen eigentlich ganz prächtig, fand Pia.
Nachdem die Formalitäten erledigt und Ole Dreyling über seine Rechte belehrt worden war – eine Prozedur, die ihm überraschenderweise Vertrauen in die Arbeit der Polizei einzuflößen schien –, informierte Pia ihn über das Ergebnis der DNA-Untersuchung und sprach ihm ihr Beileid aus.
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