Tödliche Mitgift
anderen. Gerade von ihm hatte ich erwartet, dass er sich mit uns freuen würde. Er war immer sehr um Annegrets Wohlergehen besorgt gewesen, und bei mir wusste er doch, dass es ihr gut gehen würde. Ich hab’s nicht verstanden. Er ist ausgerastet, als wir es ihm erzählt haben. Nur Annegret konnte ihn beruhigen. Dann war da noch das Problem mit der Hochzeitsfeier selbst …«
»Was für ein Problem?«
Nun lief ein dicker Schweißtropfen über Ole Dreylings Stirn. Er wischte ihn ungeduldig weg. »Wir, Annegret und ich, hatten uns überlegt, dass Matthias besser nicht mit in den Historischen Weinkeller kommen sollte. Er hätte sich dort nicht wohlgefühlt, weil doch hauptsächlich Leute von meiner Seite eingeladen waren.«
»Was heißt ›hauptsächlich‹?«
»Annegret hatte nur ihre Mutter eingeladen, die aber sowieso nicht gekommen ist. Matthias und seiner Frau hatte sie zwar auch eine Einladung geschickt, aber eigentlich wollte sie niemanden aus ihrem alten Leben dabeihaben. Es sollte ein ganz neuer Anfang für sie werden.«
Pia lief ein Schauer über den Rücken. All diese Pläne schienen so gründlich missglückt zu sein. Nachdem sie auch die Schilderung der Ereignisse während der Hochzeitsfeier gehört hatte, bei der ein gewisser Dietrich Dreyling eine für die junge Braut äußerst peinliche Rede gehalten hatte und es deshalb zu einem Eklat durch Matthias Nowak gekommen war, war Ole Dreyling am frühen Nachmittag vorerst entlassen.
12. Kapitel
U m etwas Abstand von den Ermittlungen zu bekommen, beschloss Pia entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, noch etwas einkaufen zu fahren. Normalerweise besorgte sie alles, was sie zum Leben brauchte, in der Nähe ihrer Wohnung und fuhr nur selten in ein Einkaufzentrum oder einen Supermarkt. Ihre Arbeit im Kommissariat war jedoch so weit erledigt, ein Haufen Anträge und Formulare waren ausgefüllt, die Reiseunterlagen komplett, und die Uhr zeigte erst halb fünf. Wie sollte sie den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend totschlagen? Ihr Koffer würde in einer Viertelstunde gepackt sein.
Pia fasste den Entschluss, sich für Italien noch etwas Sommerliches zum Anziehen und einen neuen Koffer zu kaufen, und lenkte ihren Wagen nach Moisling zum Einkaufszentrum. Beim Gang durch die Geschäfte stellte sich jedoch schnell die bekannte Unlust bei ihr ein. Sie hatte noch nie Spaß am Einkaufen gehabt. Die Aussicht, den Abend allein in den eigenen vier Wänden oder mit einer Trainingsrande auf dem Fahrrad zu verbringen, lockte sie aber auch nicht. Früher hatte es ihr wenig ausgemacht, abends allein zu sein, doch irgendwie hatte Hinnerk sie in dieser Hinsicht verdorben.
Sie trödelte fast zwei Stunden herum und kaufte neue Laufschuhe mit zusätzlicher Vorfuß- und Fersendämmung, die der Verkäufer ihr anpries. Nun hatte sie jedenfalls keine Ausrede mehr, um das Konditionstraining ausfallen zu lassen. Zusätzlich erstand sie zwei sommerliche Tops und einen kurzen Rock, Zeugs, das sie in Norddeutschland nur selten brauchte. Nach diesen Ausgaben fand sie, dass ihr alter Koffer noch prima seinen Zweck erfüllen würde. Stattdessen besorgte sie sich beim Bäcker Baguettebrot sowie in einem Lebensmittelgeschäft Käse und etwas Salat. Die Menge reichte locker für zwei. Aber warum sollte sie es sich heute Abend nicht gut gehen lassen, nur weil ihr Freund etwas anderes vorhatte? Und vielleicht kam Hinnerk ja auch noch bei ihr vorbei, um sich von ihr zu verabschieden. Sicher, ein paar Tage Italien waren keine große Sache, aber trotzdem …
Als Pia mit dem angenehmen Gefühl von Effizienz und beruhigender Normalität, mit zwei Tüten beladen, das Einkaufszentrum verließ, war es kurz nach sieben. Noch mehr als genug Zeit zum Kofferpacken und für ein gemütliches Abendessen vor dem Fernseher, überlegte sie. Sie fuhr soeben schwungvoll die letzten Meter der Rampe vom Parkhaus hinunter und schaute eher zufällig nach links zu den Autos auf dem Parkplatz hinüber – da sah sie ihn.
War der Mann neben dem blauen VW-Bus wirklich Hinnerk? Direkt neben ihm stand eine dunkelhaarige Frau und legte gerade ihre Hand auf seinen Arm. Sie beugte sich zu ihm hinüber, und ihr Kopf näherte sich seinem Ohr, als wollte sie ihm etwas zuflüstern. Es war eine intime, irritierende kleine Szene. Nun drehte die Frau den Kopf, lachte und … Pia erkannte ihre Schwester Nele!
Das ungeduldige Hupen hinter sich nahm Pia, die instinktiv vom Gas gegangen war, nur am Rande wahr. Es war ihr auch egal.
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