Tödliche Mitgift
Hinnerk schloss sein Auto ab und wandte sich zu seiner Begleiterin um. Dabei konnte Pia kurz auch sein Gesicht erkennen. Er sah gelassen und fröhlich aus.
Erneutes Hupen schreckte sie aus ihren Betrachtungen. Sie hatte den Wagen abgewürgt! Ärgerlich startete sie den Motor neu und führ an. Hinnerk hatte sie nicht bemerkt. Kein Wunder, denn jetzt hakte sich Nele bei ihm unter, und sie gingen dicht nebeneinander her zum Eingang des Einkaufszentrums. Nele war einen guten Kopf kleiner als Hinnerk und musste demnach zu ihm aufschauen, wenn sie ihm in die Augen sehen wollte. Pia warf den beiden noch einen Blick hinterher und stellte sich widerwillig vor, wie Nele ihn anhimmelte. Na ja, es war bestimmt schön, mal von jemandem angehimmelt zu werden, ging es ihr zynisch durch den Sinn …
Ein Gutes hat das Ganze ja, dachte Pia ein paar Sekunden später, während sie ihr Auto vom Parkplatz auf den Padelügger Weg lenkte. Ich bin ihnen nicht mitten im Einkaufszentrum in die Arme gelaufen. So war ihr zumindest eine vor Verlegenheit triefende Szene erspart geblieben. Im Grunde wusste sie ja, dass Hinnerk des Öfteren hier einkaufte, sie, Pia, jedoch nur selten überreden konnte mitzukommen. Entweder hatte sie keine Zeit oder aber keine Lust auf das Menschengewühl. Dies schien nun die Rache dafür zu sein.
Dieses Treffen auf dem Parkplatz zwischen Hinnerk und ihrer Schwester – konnte es nicht auch eine zufällige Begegnung gewesen sein? Es musste ja nicht unbedingt etwas bedeuten, sagte sie sich, als eine Ampel sie zum Halten zwang. Betrachte die Fakten, bilde dir nicht gleich sonst was ein!, ermahnte sie sich. Warum soll er sich nicht mal mit Nele treffen, die irgendwo bei Freunden in Lübeck wohnte? Aber sie hatte so vertraut getan, wandte Pias Verstand mitleidlos ein, und Hinnerk hatte es zugelassen.
Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, wurde Pia wütend und gab, als die Ampel endlich auf Grün sprang, unverhältnismäßig viel Gas. Sie schaltete ihren alten Citroën so ruppig, dass es im Getriebe knirschte. Verdammt, sie hatte die Stadt noch nicht einmal verlassen, und schon hatte Hinnerk ein Date mit ihrer Schwester!
Aufgrund ihrer jüngsten Entdeckung verwirrt und trotz aller in Betracht gezogenen Erklärungen verärgert, kam Pia in der Hartengrube an. Da sie keinen Parkplatz fand, fuhr sie einmal um den Dom herum und hatte am Domkirchhof mehr Glück. Die ohnehin verhaltene Freude über ihre Einkäufe war ihr jetzt allerdings vollends verdorben. Pia stieg aus dem Auto. Sie verspürte kaum Lust, ihre Tüten aus dem Kofferraum zu holen, und ließ den Blick missmutig über die ausgedehnte Rasenfläche hinweg bis zum Dom schweifen. Es gab auch Dinge, die sich nicht von einem Moment auf den nächsten änderten, dachte sie mit einem spöttischen Lächeln. Der Dom stand hier immerhin seit mehr als siebenhundertfünfzig Jahren an seinem Platz. Doch was war das? Rechts von ihr, kurz vor dem Denkmal Heinrichs des Löwen, lag etwas auf dem Rasen, was dort nicht hingehörte.
Pia lief quer über die Grünfläche, ging vor dem dunklen Bündel in die Hocke und starrte in ein Paar glasige Augen, in denen sich der Abendhimmel spiegelte. Hier vor ihr lag Julenka, es war kein Zweifel möglich, und sie war tot. Überfahren von einem der Rowdys, die immer viel zu schnell die kleinen Straßen entlang rasten, und dann hier auf den Rasen geschleudert? Sie würde es Andrej, dem Besitzer der Katze, sagen müssen. »Juletschka, konntest du nicht besser aufpassen?«, murmelte sie in die Stille des regnerischen Abends hinein. Da hockte sie nun auf dem Reisen und sprach mit einer toten Katze. Das weiche Fell des Tierchens war an Brust und Bauch blutig, sein Maul wie zu einem protestierenden letzten Schrei geöffnet, die kleine rosa Zunge hing zwischen den nadelspitzen Katzenzähnen heraus.
Pia erkannte Julenka, weil sie sich schon öfter um die Katze gekümmert hatte, wenn Andrej unterwegs gewesen war. Sie hatte diese Katze nie besonders gut leiden können, was aber auf Gegenseitigkeit beruht hatte: Julenka hatte sie beim Füttern ein paar Mal gekratzt. Doch das machte die Sache nun auch nicht besser. Andrej hatte seine Katze geliebt. Seine »erste deutsche Freundin«, hatte er sie immer genannt – was für ein blöder Zufall, dass sie überfahren worden war. Ausgerechnet heute, und sie, Pia, hatte sie entdecken müssen …
Pia beschloss, die tote Julenka vorerst liegen zu lassen und zu schauen, ob Andrej zu Hause war. Sie holte
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