Tödliche Nähe
›weniger aussichtsreichen‹ Akten um. Fluchend schnappte sie hektisch nach umherflatternden Papieren und musterte das Chaos um ihren Schreibtisch herum.
»Verdammt.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn und hoffte inständig, dass die Menschen, die ihr all diese Akten zugeschickt hatten, nach irgendeinem nachvollziehbaren Ordnungssystem vorgegangen waren. Mit einem Stöhnen schob sie ihren Stuhl zurück. Am liebsten hätte sie die ganze Unordnung einfach liegen lassen und wäre ins Bett gegangen.
Und genau das hätte sie auch beinahe getan. Sie war so erschöpft, so verdammt müde.
Doch dann erregte ein Bild ihre Aufmerksamkeit.
Sie konnte nicht einmal sagen, warum.
Aber als sie es ansah, spürte sie etwas.
Ein Brennen. Dieses Zeichen , auf das sie gewartet hatte – danach hatte sie gesucht, nach so jemandem . Das Gesicht der jungen Frau hatte nichts sonderlich Faszinierendes. Sie besaß überhaupt keine Ähnlichkeit mit Joely.
Ihr Haar leuchtete in so einem hellen Blond, dass es fast unnatürlich wirkte. Große blaue Augen, große runde Brüste … Sie war ganz der Typ Barbie, bis hin zu dem leuchtenden, rosa-weiß gemusterten Sommerkleid, das kaum ihren Hintern bedeckte. Alles an ihr strahlte, ihr Lächeln, ihre Augen, das Diamantarmband an ihrem rechten Handgelenk.
Ihr Name war Kathleen Hughes.
Die nächste Aufnahme von ihr war nicht so schmeichelhaft.
Sie lag auf einem Obduktionstisch, ihre Haut wies diesen blassen, blaugrauen Farbton des Todes auf, und ihr pinkfarbenes Kunstlederkleid war mit Blut und Dreck besudelt.
Nia durchwühlte die Mappen, suchte alles zusammen, was Kathleen Hughes betraf, und fing an zu lesen. Abgesehen von ihrem attraktiven Äußeren und dem zarten Alter hatte sie nichts mit Joely gemeinsam. Ihre Cousine war in allem, was sie tat, erfolgreich gewesen – dieses Mädchen hatte dagegen vor allem oft und intensiv gefeiert, wohl als Ausgleich für eine anscheinend eher normale, fast schon langweilige Kindheit. Am College hatte sie eher so vor sich hingedümpelt und nebenher als Stripperin in einem Club gearbeitet.
Ganz anders als Joely.
Doch als Nia Kathleens Gesicht betrachtete, zog sich ihr der Magen zusammen, und sie bekam einen Adrenalinstoß. Allerdings konnte das eigentlich nichts zu bedeuten haben, denn Kathleen war erst vor zwei Monaten gestorben.
Joe Carsons Tod lag aber bereits neun Monate zurück.
Dennoch …
Nia konnte nicht anders, sie las einfach weiter. Kathleen war brutal vergewaltigt worden und hatte unter Einfluss von Drogen gestanden. Ihrer Mitbewohnerin zufolge hatte sie seit einer Weile verschiedene Pillen genommen. Keine Beziehung; ihr letzter fester Freund, ein gewisser Dr. Jared Roberts, besaß ein wasserdichtes Alibi – er arbeitete als Notarzt in einem Krankenhaus in Detroit und hatte dort in jener Nacht Dienst gehabt, als Kathleen gestorben war … und zwar in Chicago.
Zeugen hatten gesehen, wie sie den Club in Begleitung eines Mannes verlassen hatte – ›schon etwas älter‹ lautete die einzige Beschreibung, die es von ihm gab.
Nia runzelte die Stirn und las sich die Informationen über den Exfreund durch. Irgendwie sah diese kunstlederne Barbie nicht wie die typische Freundin eines Arztes aus. Er war fünfunddreißig Jahre alt … und stammte aus Kathleens Heimatstadt Madison in Indiana.
Ein Altersunterschied von elf Jahren – war er damit ›schon etwas älter‹? Sie seufzte. Egal, er hatte ein Alibi. Was spielte das alles überhaupt für eine Rolle?
Aus irgendeinem Grund konnte sie einfach nicht aufhören zu lesen.
Mit pochendem Schädel und klopfendem Herzen nahm sie sich den Bericht des Gerichtsmediziners vor.
Eine Zeile sprang ihr sofort ins Auge und machte sie stutzig. Sie las sie wieder und wieder. Noch während ihr Gehirn die Information zu verarbeiten versuchte, sah Nia ihre Cousine vor sich auf einem Obduktionstisch liegen … so wie Kathleen. Joelys Haare … sie waren kürzer gewesen als in Nias Erinnerung. Sehr viel kürzer.
Damals hatte Nia nicht groß darüber nachgedacht.
Aber nun … Ihr stockte der Atem und sie verspürte ein Stechen in der Brust. Nia schluckte trocken, rieb sich die Augen und zwang sich, den Bericht noch einmal zu lesen. Irgendwann in der Mordnacht waren Kathleen Hughes die Haare abgeschnitten worden. Nicht komplett … Es handelte sich lediglich um einen Teil der Stirnpartie, eine fünfzehn Zentimeter lange Strähne.
Nia zitterte die Hand, als sie nach ihrem Handy griff.
Sie brauchte drei
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