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Toedliche Offenbarung

Titel: Toedliche Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Kuhnert
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gut. Den Leifert, gleich neben ihm, auch.
    Verdammt, vergessen Sie, was ich gesagt habe.
     
    Aaron Borgas
    Gegen Morgen wachte ich von Schüssen und Schreien auf. Behutsam reckte ich mich nach meinem Guckloch, schob mit den Fingern vorsichtig die Kuhscheiße zur Seite und sah nach draußen. Vor mir lag ein grüngelb schimmerndes Feld, auf dem sich etliche Leute tummelten. Ich kniff die Augen zusammen. Die Fläche sah aus wie ein großer Sportplatz. Aber statt Fußballern standen dort jetzt Häftlinge. Ich weiß nicht, wie viele: zwanzig, dreißig, vielleicht auch vierzig. Es kamen immer mehr. Sie wurden wie in einem Kessel kreisförmig zusammengetrieben. Um sie herum bildeten Uniformierte einen Kreis und bewachten sie mit angelegten Waffen. Später erschienen noch Zivilisten und welche in Uniform. Ich habe keine Ahnung, ob das SS, Wehrmacht oder Volkssturm war, das konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen. Außerdem waren die Sachen durch den Qualm und den Ruß nach den Explosionen verdreckt.
    Ja, die hatten Gewehre in den Händen, einige sogar Maschinengewehre. Die meisten Männer standen, manche knieten sich hin, um besser zielen zu können. Ein Teil der Gefangenen blieb auch stehen, offenbar hofften die auf Gnade. Andere trauten dem Braten nicht, sie spritzten nach allen Seiten auseinander. Dann ging alles ganz schnell. Die Häftlinge in der Mitte des Kreises fielen um wie gefällte Bäume. Danach liefen die bewaffneten Männer den Flüchtenden hinterher. Immerzu knallten Schüsse.
    Der Gestank des Misthaufens, der Durst, meine Wunde und die Schwäche ließen mich mehr als einmal in Ohnmacht fallen. Wenn ich daraus erwachte, hörte ich Geknalle. Nichts hatte sich verändert. Ich schaute nicht mehr durch das Guckloch, wollte nicht mit ansehen, was draußen passierte, wollte lieber sterben.
     
    Wilhelm Trott
    In jener Nacht habe ich bei meiner Tante geschlafen. Mir war klar, dass meine Mutter sich Sorgen machte, wenn ich nicht heim komme, aber ich hatte solche Angst, dass man mich aus Versehen erschießt.
    Ich hockte am Fenster und sah auf die Straße. Mein Onkel, ein Kriegsversehrter, wollte kurz vor die Tür gehen.
    »Ich muss mal Luft schnappen«, murmelte er und griff sich seine Holzkrücke. Das war natürlich Quatsch mit der Luft, Fensterscheiben gab es sowieso nicht mehr. Der war nur neugierig, was da draußen so passierte. Schließlich hörten wir nicht nur die Explosionen vom Güterbahnhof, sondern auch Schüsse von der Fuhrberger Straße und aus dem Neustädter Holz.
    Kaum stand er im Vorgarten, kam da so ein SS-ler.
    »Wir brauchen jeden kampffähigen Mann. Treffpunkt ist die Neustädter Schule«, donnerte der ihm entgegen. »Wenn Sie ein Gewehr besitzen, bringen Sie es mit.«
    Ich drückte mich dicht an die Wand, damit der von der SS mich nicht zu sehen bekam, sonst wäre ich auch dran gewesen. Der holte jeden. Nachdem er meinem Onkel diesen Befehl gegeben hatte, griff er sich den zahnlosen Weitemeyer aus dem Nachbarhaus, der weit über siebzig war, und gab ihm die gleiche Order. Anschließend nahm er sich den Fritz zur Seite, der war eine Klasse unter mir.
    Mein Onkel ist aber nicht zur Neustädter Schule gegangen, sondern nur einmal um den Block und hat sich danach im Keller versteckt.
    »Ich lasse mich doch nicht für diesen Scheiß einspannen und schieße auf Wehrlose. Ohne mich.«
     

5
     
    »Ich mach da nicht mehr mit.« Kevin hat lange überlegt, bevor er den Satz ausspricht – auch wenn er es nur alleine vor dem Spiegel tut. Die ganze Nacht hat er sich unruhig auf dem schmalen Feldbett hin- und hergeworfen und über sein Leben nachgedacht. Sicher, es stimmt, dass Matusch ihm zu einer Art Heimat verholfen hat: die Kampfsportgruppe, die Partei, die Kameradschaft. Aber seit gestern ist ihm klar, dass er Matuschs Bedingungslosigkeit nicht teilt. Als er Felix auf dem Boden liegen sah, gefiel ihm die Seite, auf der er steht, nicht mehr. Plötzlich sah er sich mit den Augen seines alten Klassenkameraden – und das, was er sah, gefiel ihm nicht.
    Felix war es, der früher gesagt hatte: Lass dich nicht in die Ecke drängen. Entscheide selbst. Arbeite an dir. Natürlich hatte er damit den Fußball gemeint. Aber es passt auf alles. Selbst entscheiden. Kevin starrt seine demolierte Nase an und fragt sich, wann er sich je selbst entschieden hat. Eigentlich haben das immer andere für ihn übernommen. Er ist derjenige, der reagiert, egal ob er seine betrunkene Mutter ins Haus geschleppt hat oder sich

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