Toedliche Offenbarung
Blut ist im Schuh.«
Dann stand sie vor einem Jungen mit einem großen Blutschwamm im Gesicht und hielt auch ihm den Schuh hin.
»Probier ihn an.« Er tat, wie ihm geheißen, und der Schuh passte perfekt. Da gurrten die Tauben.
»Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh.«
Bei den letzten Worten richtete der Junge das Gewehr auf sie und drohte: »Verschwinde oder wir bringen dich auch um.«
Er hielt ihr die Waffe vor die Brust und drückte ab. Laut auflachend ging er weg, und sie sank mit einer klaffenden Wunde auf blutrot blühendes Heidekraut nieder.
Marthas Herz schlägt aufgeregt, als sich die Szenen des Traumes in ihr hocharbeiten. Sie lauscht nach draußen. Vor ihrem Fenster gurren Tauben im Apfelbaum. Sie hört sie durch das geöffnete Fenster.
Alles klar, ein Lächeln huscht über Marthas Gesicht und ihre Starre löst sich.
Kein Blut ist im Schuh. Das ergibt keinen Sinn. Clara ist schließlich nicht Aschenputtel und schon gar nicht der Prinz. Alles Blödsinn, manchmal träumt man einfach nur wirres Zeug. Martha will sich gerade noch einmal im Bett umdrehen, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schießt und fast genauso schnell wieder verschwindet. Fragen. Es sind die Fragen, die Clara stellt. Schlagartig ist Martha hellwach. Der Drohbrief war ernst gemeint. Jemand hat Clara bedroht. Ihre unliebsamen Fragen haben einige Leute nervös gemacht. Und dann? Martha setzt sich im Bett auf. Was ist dann passiert?
Eine wie Clara Rosenthal geht nicht einfach weg und lässt das Tagebuch zurück, in dem sie die Interviews notiert hat. Schließlich ist sie extra deswegen aus New York gekommen. Diese junge Frau wollte wissen, was in den letzten Kriegstagen in Celle wirklich passiert ist. Sie hat sich in der Nähe der Bahngleise eingemietet, befragt die Nachbarn, will wissen, was die gesehen haben. Mit Akribie ist sie daran gegangen, die Menschen zu befragen, notiert alles genau und bohrt nach. Schlagartig wird Martha klar, dass es Clara um mehr ging, als nur darum, einen Artikel zu schreiben.
Martha zieht sich die Bettdecke bis ans Kinn hoch und starrt nachdenklich aus dem Fenster. Hat Clara vielleicht schon lange vorher von der Jagd auf Menschen gewusst und ermittelte in Celle deshalb auf eigene Faust? Hat sie sich von Amerika aus auf den Weg gemacht, um Schuldige zu finden, sie zur Verantwortung zu ziehen? Eine Unruhe beschleicht Martha, die sie nicht zu fassen bekommt.
Sie geht in die Küche und setzt Wasser auf.
Zehn Minuten später steigt sie mit einer Tasse dampfendem Tee wieder ins Bett. Sie schlägt ihr Notizbuch auf und liest sich die Stichworte noch einmal durch, die sie sich gestern Nacht notiert hat, bevor sie von der Müdigkeit übermannt wurde.
Wer ist der Junge am Fliegerhorst? Er hat wehrlose Häftlinge erschossen. Das ist Mord. Und: Mord verjährt nicht. Blutschwamm.
Sie bleibt an dem Wort Blutschwamm hängen. Einer der Jungen aus der Nachbarschaft hatte einen Blutschwamm im Gesicht. Herbert Müller. Auch der Junge am Fliegerhorst hatte einen großen Blutschwamm im Gesicht. Könnte Aaron Borgas Herbert Müller dabei gesehen haben, wie er auf Dimitri geschossen hat?
Marthas Unterbewusstsein hat sich längst entschieden: So viele Jungen mit Blutschwamm auf der Wange gibt es nicht.
Mit kleinen Schlucken trinkt Martha ihren heißen Tee aus und die Unruhe in ihr wächst. Warum hat Clara bei ihrer Abreise das Tagebuch nicht mitgenommen?
2
Beckmann drückt die Alarmtaste des Weckers herunter. Sieben Uhr. Müde dreht er sich noch einmal auf die Seite.
Als er fertig geduscht ist, bleibt ihm eine knappe Stunde, um die Unterlagen durchzugehen, die ihm Rischmüller gestern Abend auf dem Maschseefest zugesteckt hat, wo es noch voller als am Vortag gewesen ist.
Tausende hatten bei hochsommerlichen Temperaturen das Seeufer bevölkert. Jugendliche saßen auf der niedrigen Sandsteinmauer, die den See von der Promenade trennt. Menschenmassen schlenderten von einer Musikbühne zur anderen und lauschten mal irischer Musik, mal deutschen Schlagern. Manchmal vermengten sich die Klänge unterschiedlicher Musikrichtungen auf halber Strecke, so wie der Duft von gegrillten Scampis, Steaks und Bratwürsten. Auf dem See drehte das Ausflugsboot seine Runden und junge Leute auf Tretbooten lieferten sich laut kreischend Wettkämpfe.
Beckmann hatte Rischmüller an der Löwenbastion getroffen. Von dem sprungbereiten Löwenpaar, das die Treppe am Seeufer bewacht, war heute vor lauter Menschen nichts zu sehen.
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