Toedliche Offenbarung
des Café Müller. Die gelb gestrichene Villa aus dem letzten Jahrhundert strahlt freundlich in der Morgensonne. Zögerlich zieht Martha an der Eingangstür. Sie lässt sich öffnen. Martha tritt ein und sieht eine Frau mit rosigen Wangen.
»Haben Sie schon geöffnet?«
»Aber sicher doch.« Die Kellnerin nickt Martha freundlich zu. »Immer ab neun. Wir servieren auch draußen.«
Martha nimmt im Schatten eines Sonnenschirms auf der Terrasse Platz und genießt die noch frische Morgenluft.
Als sie sich zu der Tasse Kaffee die beiden mit Tilsiter belegten Brötchenhälften einverleibt hat, geht es ihr deutlich besser und ihr flaues Gefühl im Magen ist verschwunden. Sie schiebt den Teller zur Seite und zieht die Kopien von Claras Aufzeichnungen aus ihrer Handtasche. Der Stapel ist deutlich geschrumpft.
Aaron Borgas
Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war es seltsam still nach all den Explosionen, Schüssen und Schreien. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich schon tot war. Ich riss meine verklebten Augen auf, atmete tief ein und roch den penetranten Mistgestank. Mein Magen knurrte und mir fiel der letzte Apfel in meiner Jackentasche ein. Nachdem ich ihn gegessen hatte, ging es mir besser, wenn man dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt benutzen darf.
Vorsichtig reckte ich meine steifen Glieder. Nach einigen Versuchen konnte ich mich aufrichten und sah aus dem Guckloch. Auf der Straße vor mir wurden Gefangene in Kolonnen entlang geführt, eskortiert von SS-Leuten. Diese Männer und Frauen waren nur ein paar Meter von mir entfernt. Die meisten steckten in Sträflingskleidung, einige sogar noch mit gestreiftem Käppi auf dem Kopf. Die Menschen trotteten mit gesenkten Köpfen an mir vorbei. Keiner sah sich um, alle hatten die letzte Hoffnung verloren. Plötzlich entdeckte ich in einer der Viererreihen Josef. Mein alter Freund Josef Rosenthal lebte.
Marthas Finger fangen an zu kribbeln. Rosenthal? Erst Herbert Müller und der Blutschwamm, jetzt Josef Rosenthal. Gibt es eine Verbindung von ihm zu Clara Rosenthal? Sind sie etwa verwandt?
Martha stellt in ihrem Kopf eine Reihe von Möglichkeiten her, verwirft sie jedoch sogleich. Spekulationen bringen sie nicht weiter.
Es ist halb elf. Sie bestellt sich eine zweite Tasse Kaffee. Die nächste Eintragung ist auf kariertem Papier notiert – und in einer anderen Schrift. Irritiert mustert Martha den Bogen. Es ist ein Brief, der zwischen die Kopien der Aufzeichnungen gerutscht sein muss. Er ist viel älter als der Rest der Aufzeichnungen. Erst hat sie Schwierigkeiten, die Sütterlinschrift zu entziffern, aber nach und nach gelingt es ihr immer besser.
Hannover, 4. September 1946
Liebe Clara!
Euer Paket habe ich erhalten. Danke. Auf dem Foto habe ich Dich kaum erkannt, so groß bist Du geworden. Ich bin so unendlich glücklich, dass es Dir und Deiner Mutter gut geht, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Vor allem bin ich glücklich, dass ich Euch endlich gefunden habe. Ich vermisse Euch, aber jetzt, da ich weiß, dass es ein Wiedersehen gibt, bin ich beflügelt. Ich denke, dass ich gegen Weihnachten zu Euch nach New York komme, dann habe ich hier hoffentlich alles bei den Behörden erledigt. Wenn nicht, wird es später. Natürlich berichte ich Dir von diesen letzten Tagen des Krieges, obwohl ich nicht gerne daran zurückdenke. Von dem Bombenangriff auf den Zug und von der ersten Etappe unserer Flucht habe ich im letzten Brief geschrieben. Auch davon, wie ich mich in dem Schuppen versteckte und dort die Nacht verbrachte. Machen wir mit dem Tag danach weiter.
Am nächsten Morgen schlich ich mich aus meinem Versteck, doch ich kam keine hundert Meter weit, als schon einer vom Volkssturm hinter einem Baum hervorsprang und mir seine geladene Waffe vors Gesicht hielt.
»Los, dreh dich um und geh ruhig weiter. Mach keine Scherereien, dann tu ich dir auch nichts.« Der Mann trieb mich vor sich her. »Ich kann nicht anders. Ich habe Frau und Kinder. Wenn ich mich weigere, komme ich vors Standgericht.«
Ich witterte meine Chance. Während ich mit erhobenen Armen vor ihm her ging, erzählte ich ihm, dass ich früher in Celle gelebt habe.
»Ich bin der Josef Rosenthal, der Rechtsanwalt. Meiner Cousine Ida gehörte ein Warenhaus in der Altstadt.«
Der Mann lockerte den Druck der Flinte auf meinem Rücken. »Erzähl keinen Unsinn. Der Rosenthal ist doch längst in Amerika mit seinem ganzen Zaster – und die Ida genauso.«
»Geld,
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