Toedliche Offenbarung
Du begleitest mich, und nicht umgekehrt.«
Sonja bleibt mitten im Treppenaufgang stehen.
»Dann beeil du dich aber auch. Dir kann man ja beim Gehen die Schuhe besohlen.«
»Sonja …« Schlimm, wenn die eigenen Kinder die Lieblingssprüche gegen einen selbst verwenden.
»Ich mein ja nur. Wozu ist denn das ganze Rumgelatsche mit diesen Skistöcken gut, wenn du nicht mal die Treppe hochkommst?«
Statt einer Antwort erntet Sonja eine Ohrfeige. In Gedanken. Obwohl nicht viel daran gefehlt hätte und die Hand wäre ihm tatsächlich ausgerutscht.
Atemlos betritt Borgfeld mit seiner Tochter kurz darauf den Flur der Station. Er will sich gerade bei den Stationsschwestern anmelden, als ihnen ein Arzt im weißen Kittel entgegenkommt. Borgfeld bleibt stehen.
»Entschuldigung, können Sie mir helfen?« Er schnappt nach Luft. »Kommissar Borgfeld, Polizeiinspektion Burgdorf. Ich möchte mit Felix Rinsing sprechen. Er wurde heute früh eingeliefert.«
Auf dem Kittel ist ein Namensschild befestigt. Oberarzt Doktor Schnippkoweit. Der Arzt mit den ebenmäßigen Gesichtszügen und den nach hinten gestrichenen grauen Haaren nickt bedächtig.
»Der Junge liegt hier im Zimmer. Sie können ihn sprechen. Aber nur kurz«, setzt Schnippkoweit in strengem Tonfall nach. »Der Patient hat neben den Rippenbrüchen und Prellungen ein Schädel-Hirn-Trauma. Er braucht unbedingte Ruhe.«
Als er Borgfeld immer noch schnaufen hört, fügt er hinzu: »Sie sollten sich auch einmal durchchecken lassen.«
Dann geht er weiter. Vor dem Stationszimmer dreht er sich noch einmal um.
»Aber das hier wird wirklich nur ein kurzer Besuch. Haben wir uns verstanden, Herr Kommissar?«
Borgfeld legt die Hand auf die Türklinke und zischt Sonja zu: »Du wartest draußen.«
Sonja ist wenig begeistert von dem Befehlston ihres Vaters, doch sie gehorcht ausnahmsweise, ohne zu widersprechen, und begibt sich in die für Besucher vorgesehene Sitzecke. Nur der Flunsch, den sie dabei zieht, ist unmissverständlich.
Borgfeld öffnet behutsam die Tür. Die eingeschalteten Neonröhren tauchen das Dreibettzimmer in kaltes Licht. Felix’ Bett steht direkt vor dem Fenster. Die anderen zwei Betten sind leer. Der schmale Körper des Jungen zeichnet sich unter der dünnen Bettdecke ab, um seinen Kopf ist ein Mullverband gewickelt. Neben dem Bett steht ein Ständer für die kopfüber aufgehängte Flasche mit der Ringerlösung. Langsam tröpfelt die Flüssigkeit durch die transparenten Schläuche in die Infusionskanüle, die mit weißem Tape am Handgelenk befestigt ist.
»Guten Morgen, Felix.«
Felix’ Augen wandern zu dem Besucher. »Wer sind Sie?«
»Kommissar Borgfeld von der Burgdorfer Polizeiinspektion, Sonjas Vater.«
Ein mattes Lächeln huscht über das von Kratzern verunstaltete Gesicht des Jungen. Die Dornen der Schlehe haben ganze Arbeit geleistet.
»Ich hätte ein paar Fragen an dich. Kannst du sprechen?«
Felix mustert Sonjas Vater. Der quadratische Schädel des Polizisten ist zwar groß, aber noch immer zu klein, verglichen mit seinem massigen Körper.
»Legen Sie los.«
»Man hat dich auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Belsen gefunden«, beginnt Borgfeld und knöpft seine Uniformjacke auf.
Felix lehnt sich im Kissen zurück. Sonja hat Glück. Sie ähnelt ihrem Vater überhaupt nicht.
»Was ist genau passiert? Erzähl von Anfang an.«
»Das Landschulheim am Großen Moor, das kennen Sie? Ich habe mich da am Samstagmorgen im Wald versteckt. Hinter einem Busch. Von dort aus beobachtete ich die Leute von den »Aufrechten Deutschen«. Ich habe Fotos gemacht.« Nach dem letzten Satz schließt Felix die Augen. Jedes Bild erscheint vor seinem inneren Auge als Film, allerdings nicht mit ihm als glamourösem James Bond, sondern eher als gehetztem Richard Kimble.
»So gegen zehn Uhr kam ein Auto. Ein dicker Mann stieg aus. Wörstein hatte ihn erwartet. Die beiden standen vor dem Eingang und redeten. Hörte sich so an, als wenn das dieser Typ war, der das Heim gekauft hat. Niemand weiß, wie er aussieht. Es gibt keine Fotos von ihm im Internet. Also habe ich welche gemacht.«
Felix versucht, sich zu erinnern. Er hat fotografiert. Alles war ganz einfach, bis der dunkle Schatten aus dem Nichts auftauchte.
»Plötzlich war jemand hinter mir und hat mich niedergeschlagen. Er hatte einen großen Prügel in der Hand. Sah aus wie ein Baseballschläger. Danach klafft bei mir eine Lücke … ich war wohl für einen Moment ohnmächtig.«
»Hast du erkannt, wer das
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