Toedliche Offenbarung
nicht einmal an Broderich gedacht. Dieser Tote, dem man auf so brutale Art das Maul gestopft hat, ist bei ihr in den Hintergrund getreten. Liegt es an Claras Interviews, den beiden Flüchtenden, die das Brot auf dem Bahnhof mitgenommen haben und es bei Aaron und Josef gegen Schnaps getauscht haben, bevor einer von beiden kurz darauf von einem Jungen in der Nähe der Flakstation erschossen wurde oder …?
Gedankenverloren öffnet Martha ihre Autotür. Sie hält inne, als sie endlich hinter ihrem Lenkrad sitzt. Etwas ist in ihrem Kopf aufgeflackert, etwas, das sie bislang nicht richtig eingeordnet hat. Sie schließt die Augen, konzentriert sich und versucht, die Gedanken der letzten Minuten zurückzuverfolgen.
Plötzlich macht es klick.
21
Felix’ Müdigkeit ist wie weggeblasen, als Sonja ins Zimmer schlüpft und ihm einen Kuss auf die lädierte Stirn haucht. Der fiebrige Glanz ist aus seinen Augen verschwunden und die Blässe aus seinem Gesicht gewichen. Sie zieht sich den Besucherstuhl ans Bett und streichelt seine Hand.
»Vielleicht kommst du nach der Visite nach Hause.«
»Dann kann ich bei der Mahnwache mit dabei sein«, strahlt Felix.
Borgfeld sagt nichts dazu, aber sein Kopf wird rot. Sonja kennt diese Vorzeichen eines sich ankündigenden Wutausbruchs und flüchtet normalerweise. Jetzt atmet sie tief ein und geht in Habachtstellung.
»Hast du immer noch nicht genug?«, blafft Borgfeld seine Tochter an. »Der Junge hat ein Schädel-Hirn-Trauma. Der bleibt mindestens 48 Stunden hier. Ist das klar? Dieser Doktor Schippoweg meint, dass Felix Schonung braucht. Das hast du doch gehört. Wir müssten eigentlich schon längst weg sein.«
Borgfeld mag es nicht, wenn seine Tochter sich in Dinge einmischt, bei denen Ärger in der Luft liegt.
»Der Arzt heißt Schnippkoweit.«
»Na und? Schonung hat er trotzdem verordnet.«
Felix zuckt bei der gewaltigen Lautstärke der Worte zusammen. Diesen Tonfall kennt er von seinen Eltern nicht. Sonja hingegen reagiert auf den verbalen Klatscher gar nicht, sondern fixiert nur stumm das Bild an der Wand, während sie sturmerprobt das Gewitter über sich niedergehen lässt. Doch es kommt nichts mehr. Borgfeld fühlt sich in Anwesenheit von Felix vom Schweigen seiner Tochter ausgebremst. Er räuspert sich und schaltet eine Stimmlage zurück.
»Die Mahnwache findet also statt?«, presst er hervor.
»Ja, und es haben ganz viele zugesagt. Das mit Felix hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und jetzt kommen die Leute von überall her.«
Borgfeld ist bei dieser Protestversammlung nicht wohl. Hoffentlich kommt es nicht zu Prügeleien. Der Vorgeschmack hier im Krankenhaus reicht ihm. Freiheitsberaubung, Verschleppung, Mordversuch. Mit diesen Delikten könnte man die »Aufrechten Deutschen« allerdings packen. Man muss ihnen die Verschleppung und die brutale Verfolgung nur beweisen – aber genau da liegt der Haken.
»Kannst du uns einen Anhaltspunkt geben, wo man dich abgesetzt hat?«, versucht Borgfeld es noch einmal.
»Da waren hohe Bäume in der Nähe.« Felix überlegt. »Drei Birken standen nebeneinander.«
Das könnte überall in dem Waldgebiet sein. Drei Birken oder die Stecknadel im Heuhaufen.
»Und der Weg? Gab es da etwas Besonderes?« Borgfelds Stimme klingt hoffnungsvoll.
»Fester Sand mit vielen Schlaglöchern, zwischendurch hörte ich Kies knirschen. Wieso fragen Sie?«
»Wenn wir denen Körperverletzung, Entführung oder Ähnliches nachweisen wollen, brauchen wir Beweise, sonst lacht uns Wörstein aus. Vielleicht finden wir die Patronenhülsen, das wäre das Beste. Hast du dir das Nummernschild gemerkt?«
»Nein, aber das habe ich morgens schon fotografiert, es müsste bei Sonja auf dem Rechner sein. Mein Fotoapparat und das Handy fehlen. Die Nikon war ganz neu.«
Plötzlich hellt sich Felix’ Gesicht auf. »Bevor die mich niedergeschlagen haben, habe ich den Chip der Kamera gewechselt. Der volle steckt in meiner Hosentasche.«
Felix deutet mit dem Kopf zum Schrank. Sofort zuckt er zusammen. Der schmerzhafte Stich zieht wieder von der einen Seite der Schläfe zur anderen.
22
»Martha, was für eine Überraschung.« Trixi ist beim ersten Läuten ihres Telefons dran.
»Kennst du einen Herbert Müller aus Celle?«, fällt Martha mit der Tür ins Haus.
»Hat der was mit Henry Broderich zu tun?«
»Damit nicht, aber ich bin bei einer anderen Recherche auf diesen Namen gestoßen. Könntest du versuchen herauszubekommen, ob er noch
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