Toedliche Offenbarung
du?‹«
Felix konnte sich nicht daran erinnern, wie lange das alles gedauert hatte, aber die Minuten blieben ihm zäh und endlos in Erinnerung. Jeden Augenblick hatte er damit gerechnet, dass sich diese kräftigen Beine abermals vor ihm aufbauten; er hielt im Graben seinen Atem an, wartete, doch nichts passierte. Die Rufe entfernten sich, kamen wieder dichter heran, schwappten weg. Dann war schließlich Türschlagen und Motorstarten zu hören.
»Als ich mich endlich traute, über den Rand des Grabens zu gucken, habe ich auf dem Weg eine Staubwolke gesehen – der Nissan war tatsächlich fort. Sofort suchte ich mein Handy. Ich wollte Sonja anrufen, die Polizei, was weiß ich. Ich tastete meine Hosentaschen ab. Nichts. Das Handy fehlte und der Fotoapparat auch.« Felix schließt die Augen, redet aber weiter.
»Ich sah mich um. Kein Anhaltspunkt. Nichts. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo der Typ mich rausgeschmissen hatte. Über mir summten Bienen, flatterten bunte Schmetterlinge – sonst nichts.« Felix’ Augen zucken. »Ich hab’ überlegt, was ich machen soll. Warten war schlecht. Wer sollte mich in dieser Einöde finden? Also bin ich losgelaufen – aber ich wusste nicht wohin. Ich hatte keinerlei Orientierung. Egal, wie weit ich lief, alles sah irgendwie gleich aus. Irgendwann habe ich einen alten Hochsitz entdeckt, der sah ziemlich marode aus. Schien lange niemand dagewesen zu sein. Nicht einmal ein Weg führte dorthin. Also bin ich weiter gelaufen. Heide, Birken, Wacholder. Immer wieder das Gleiche. Ab und an hörte ich einen Donnerschlag, den ich nicht einordnen konnte. Ich lief und lief. Irgendwann stand ich wieder vor dem Hochsitz.«
Als Felix erneut vor der Jagdkanzel gestanden hatte, verließen ihn die Kräfte. Mutterseelenallein stand er da und heulte. Kein Mensch weit und breit. Sein Kopf, die Rippen und Beine – alles schmerzte. Und nicht nur ein bisschen. Sein Körper war ein einziger Schmerz. Sein Gesicht von der Sonne verbrannt, die Augen geschwollen, am ganzen Körper von Mücken zerstochen. Auch die Bremsen hatten ihn nicht verschont. Überall hatte er Quaddeln. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Hunger und Durst plagten ihn. Er pflückte sich Heidelbeeren, verschlang sie wie ein Tier, die Warnungen seiner Mutter wegen des Fuchsbandwurms noch gut im Ohr. Fuchsbandwurm! Bis der sich entwickelt hätte, wäre er entweder tot oder in Sicherheit. Den Hunger hätte er noch verdrängen können, nicht aber den Durst. Seine Lippen waren aufgeplatzt, der Mund ausgetrocknet. Wie lange kann man ohne Wasser leben? Einen Tag, vielleicht zwei. Bei der Hitze eher einen. Als Felix dies unter dem Hochsitz begriff, überkam ihn Todesangst.
Felix hält die Augen geschlossen. Zu schrecklich ist der Gedanke daran. Darüber reden möchte er schon gar nicht.
Borgfeld glaubt, dass der Junge eingeschlafen ist. Er will gerade aufstehen und gehen, als Felix unvermutet die Augen wieder öffnet.
20
Roswitha Neumann hat sich einige der markierten Seiten durchgelesen, andere nur überflogen.
»Soweit ich das auf die Schnelle beurteilen kann, stimmen die Aussagen in den Interviews mit den Fakten überein. Ich werde das morgen noch einmal im Archiv überprüfen lassen. Mein Kollege Werner hat sich in dieses Thema besonders intensiv eingearbeitet.« Roswitha hält Martha die Aufzeichnungen hin.
»Diesen Bombenangriff gab es, die Jagd der SS, des Volkssturms und der braven Bürger auf die wehrlosen KZ-Häftlinge ebenfalls. Auch den Flakeinsatz – und tatsächlich nur diesen einen. Das hat Werner mir neulich erst erzählt.«
»Gibt es eine Liste der dafür eingeteilten Personen?«
»Keine Ahnung, aber wenn, wird Werner es wissen.«
»Ich will dich nicht überstrapazieren – kommt dir der Name Friedrich Bollund bekannt vor? Er scheint diese Clara bedroht zu haben.«
»Tut mir leid, da muss ich passen. Von dem habe ich nie gehört.«
»Danke.« Martha deutet auf Roswithas Buch. »Ist wirklich interessant. Über einige Mitarbeiter der Celler Stadtverwaltung bin ich schon in den Aufzeichnungen von Clara gestolpert.«
»Du kannst das Buch mitnehmen. Bring es mir einfach irgendwann zur Golfstunde mit. Apropos: Hat die Polizei den Täter?«
Martha zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Aber sie arbeiten mit Hochdruck dran.«
Martha verabschiedet sich mit einem Wangenkuss von Roswitha und geht nachdenklich die Stufen des Treppenhauses hinunter. Seltsamerweise hat sie in den letzten Stunden
Weitere Kostenlose Bücher