Toedliche Offenbarung
mustert ihr Kleid in den schrillen Regenbogenfarben. Bunt statt braun. Sie scheint immer noch alles wörtlich zu nehmen.
Auf dem Rückweg von Celle fährt Beckmann im Schritttempo an den fast hundert Leuten vorbei, die sich mittlerweile an der Einfahrt zum Landschulheim versammelt haben. Er sucht einen Parkplatz, aber der Straßenrand ist dicht zugeparkt. Erst am Ende der schier endlosen Autoschlange kann er sein Fahrzeug abstellen. Als Beckmann nach einem strammen Marsch entlang der geparkten Autos die Menschenansammlung erreicht, wirft er einen Blick in die Runde. Er entdeckt Borgfeld, nicht weit von ihm entfernt steht seine Tochter. Die anderen Demonstranten sieht er alle zum ersten Mal. Bis auf den Mann mit den dunkelblonden Haaren. Der steht am Rand und beobachtet mehr das Geschehen, als dass er daran teilnimmt. Zu seiner Funktionshose in Beige trägt er ein T-Shirt in unauffälligem Grün. Überhaupt vermittelt alles an ihm den Eindruck der Unauffälligkeit und Beliebigkeit.
Beckmann tippt ihm auf die Schulter.
»Kollege Meier, ich habe da mal eine Frage.«
»Nicht hier«, zischt der Kollege vom Verfassungsschutz.
»Geht auch ganz schnell.«
Zehn Minuten später suchen Beckmanns Augen die Reihen ab. Wo ist Martha? Er entdeckt sie nirgends. Ist sie vielleicht schon nach Hause gegangen?
Die Leute stehen dicht gedrängt nebeneinander, der Hüne am Rande des Waldes verdeckt eine dunkelhaarige Frau. Als er einen Schritt zur Seite macht, kann er den Hinterkopf der Frau sehen. Das könnte passen.
Endlich dreht die Frau sich um. Fehlanzeige. Es ist nicht Martha. Beckmanns Augen wandern weiter. Blonde Haare, brünette, schwarze – nur von Martha ist nichts zu sehen. Schließlich bückt sich eine kräftige Frau und gibt den Blick auf Martha frei.
Beckmann winkt, doch Martha bemerkt ihn nicht. Sie ist intensiv in ein Gespräch mit einem Mann vertieft. Er ist dem Aussehen nach deutlich über fünfzig und trägt eine Nickelbrille mit runden Gläsern. Beckmann winkt noch einmal. Endlich wird Martha auf ihn aufmerksam. Sie streicht sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und lächelt Beckmann an.
Beckmann drängelt sich durch die Protestierenden zu Martha durch. Gerade, als er sie erreicht, ereifert sich in ihrer Nähe eine junge Frau mit hennaroten Haaren: »Wie kommen diese Penner von der Region dazu, dem Wörstein das Haus zu verkaufen?«
Die Hennarote hält ihr pausbäckiges Kind im Arm und wippt breitbeinig in den Knien auf und ab.
»Die denken nie nach, die da oben.«
»Die Region hat das Haus einem Spediteur verkauft und nicht dem Wörstein. Wir wussten doch nicht, dass diese Stiftung Golter …«, versucht ein älterer Herr sie zu korrigieren.
Die Rothaarige zuckt gleichgültig mit den Schultern und unterbricht ihn: »Kommt doch aufs Gleiche raus.«
»Stiftung Golter?«, wirft eine andere Frau fragend in die Runde. Bekleidet mit Fahrradhose, Touringhemd und Helm scheint sie eher zufällig in die Gruppe geraten zu sein.
»Golter war mal die größte Spedition im Umland«, antwortet ein junger Bursche, die Hände fest in die Hosentaschen versenkt.
Plötzlich verstummen alle Gespräche. Fünf kräftige Männer in Springerstiefeln und schwarzen Hosen nähern sich auf der Zufahrtsstraße der Menschentraube. Die Kapuzen ihrer dunklen Pullis haben sie sich über die Haare gezogen, vor ihren Mündern sind schwarze Tücher. Einer hält einen Fotoapparat in der Hand und macht wahllos Aufnahmen der Demonstranten. Es ist keine Nikon, wie Borgfeld sofort registriert. Ein anderer beobachtet alles durch den Monitor eines Camcorders. Auf seinem Unterarm ist eine eintätowierte rote Rune zu erkennen. Ein lang gezogener Strich mit einem Haken oben und unten. Hinter den beiden tauchen drei weitere schwarz Vermummte auf. Sie drehen sich um. Auf den Rücken prangt jeweils eine 88. Ansonsten sehen sie aus wie ehedem die maskierten Autonomen bei den Chaostagen in Hannovers Nordstadt.
Bleiernes Schweigen lastet über allen, bis Sonja schreit: »Nazis raus.«
Sofort wandert das Zoomobjektiv der Kamera in ihre Richtung. Borgfeld beschleicht ein klammes Gefühl bei diesen Aufnahmen. Der Ruf »Nazis raus« schallt jetzt von überall her und wird immer lauter. Hoffentlich gehen die nicht gleich aufeinander los. Borgfeld fühlt sich von Minute zu Minute unwohler. Jeder kümmert sich um seine Angelegenheiten – und damit gut. Das ist seit jeher seine Devise. Mit Politik will er nichts zu tun haben. Er
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