Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
zu unterwerfen, sodass ihr nur übrig bleibe, das Beste aus einer schlimmen Aufgabe zu machen und ihr mit sorgfältig verborgener Resignation nachzukommen. Doch in Marjorie loderte heiße Leidenschaft, die gleiche heiße Leidenschaft, die Dot in den Tod geführt hatte – eine Leidenschaft aber, die Ted nicht mehr erregen konnte. Die unmittelbare Zukunft war ihr ein Graus. Im Bruchteil eines Augenblicks schoss ihr ein ganzer Strom von Gedanken durch den Kopf. Es war eine Art Gereiztheit in Teds letzten Worten angeklungen, vielleicht sogar ein verschleierter Befehlston. Der Urlaub war beileibe noch nicht fest ausgemacht und gewiss. Ein Wort von Ted, und es würde keinen Urlaub geben, und sie würde niemals von ihm wegkommen, sondern wäre auf ewig zu diesem Dasein mit ihm verdammt. Dieser Gedanke ließ Panik in ihr aufsteigen. Koste es, was es wolle, sie musste in diesen Urlaub fahren, um in der ruhigen Abgeschiedenheitdes Guardhouse den Frieden zu finden, nach dem sie sich so sehr sehnte. Koste es, was es wolle. Nur noch zehn Tage bis dahin, sagte sie sich, um ihr Gewissen zu beruhigen über diese neuerliche Schwäche – die Schwäche, die zur Tragödie führen kann. Sie zwang sich, ihm das Gesicht zuzuwenden und ihn zu küssen, zwang sich, Leidenschaft vorzutäuschen, die Lippen zu öffnen für ihn, als er sie an sich riss.
In dieser Nacht hörte sie, schlaflos daliegend, den letzten Zug vom Bahnhof kommend die abschüssigen Gleise hinter dem Haus hinunterfahren und den ersten Zug am frühen Morgen hinaufrattern.
7
Mrs Taylor, die im Harrison Way 79 wohnte, im Haus neben Marjories, und Mrs Posket, die in Nr. 69 wohnte, vier Türen weiter, waren alte Freundinnen. Beide kinderlos und Anfang dreißig, mit Ehemännern, die jeden Morgen in die Innenstadt hineinfuhren und den ganzen Tag dort blieben, verbrachten sie einen Großteil ihrer Zeit miteinander, gingen zusammen einkaufen und ins Kino, und im Winter spielten sie Bridge, abwechselnd im Haus der jeweils anderen und ein Ehepaar gegen das andere. Heute kamen die beiden gemeinsam vom Sommerschlussverkauf zurück, ein wenig müde, aber dennoch triumphierend, mit Päckchen unter den Armen. Als sie die Pforte zu Nr. 79 erreicht hatten, sahen sie beide zum Haus Nr. 77 hinüber. Obwohl mittlerweile drei Wochen vergangen waren seit dem Selbstmord von Mrs Graingers Schwester und obwohl der Sommerschlussverkauf begonnen hatte, war ihnen dieses Ereignis doch immer noch frisch genug im Gedächtnis, um beim Anblick des Hauses wieder wachgerufen zu werden.
Die kleine Mrs Taylor, blond und lebhaft, war dort an eine Geschichte gekommen, die sie schon viele Male erzählt hatte und auch bis zum Tag ihres Todes noch endlos weitererzählen würde – denn schließlich hatte nicht jeder eine Selbstmörderin genau so daliegen sehen, wie sie gestorben war. Mrs Posket, schlanker und größer und dunkelhaarig, hatte das leider verpasst und musste sich mit dem viel geringerenRang derjenigen zufriedengeben, die immerhin schon einmal in dem Haus gewesen war und mit der Schwester der toten jungen Frau einen Tag, nachdem es geschehen war, geredet hatte. Mrs Posket war als Klatschtante bekannt. Die Liebe war an ihr vorübergezogen – der Ehemann, der jeden Tag in die Innenstadt hineinfuhr, versäumte es, damit zu dienen. Und das Kino war leider kein befriedigender Ersatz. Genauso wenig wie die Sommerschlussverkäufe oder das kleine Haus, das ihr höchstens ein oder zwei Stunden am Tag Arbeit machte.
Vielleicht lagen irgendwo tief in Mrs Posket verborgen die Instinkte eines Pioniers, die ungestillte Neugier eines Entdeckers, die logische Fähigkeit eines Wissenschaftlers oder der schöpferische Drang eines Romanautors. Allein an Kreativität mangelte es; vielleicht hatte sie nie existiert, oder vielleicht hatte sie auch nicht überlebt während einer Kindheit unter öden Leuten, einer fehlgeleiteten Bildung an schlechten Schulen oder eines Ehelebens mit Bridgeabenden, Einkäufen und heimlichem Ersparten. So war Mrs Posket eher zu einer Beobachterin als zu einer Handelnden geworden. Ihr schlummernder Drang machte sie zu einer begeisterten, ja fanatischen Beobachterin. Für sie war es geradezu ein Paradebeispiel für die Ironie dieser Welt, dass solch ein dramatisches Ereignis durch die blinden blauen Augen einer Mrs Taylor gesehen worden war anstatt durch die dunklen weit blickenden Augen einer Mrs Posket – und hier muss in Klammern angemerkt werden, dass sie den Namen Mrs Posket hasste
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