Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
nicht daran gewöhnt, in der Dunkelheit zu fahren, und als sie die waldgesäumte Fahrbahn entlangfuhren, bot sich ihnen im Licht der Scheinwerfer die bizarre Schönheit von Hecken und Blattwerk dar. Sogar Hasen sprangen erstaunlicherweise vor ihnen vorüber. Einmal sahen sie die grünen Augen eines Tiers, das Marjorie für einen Fuchs hielt, George jedoch nur für eine streunende Katze. Sie fuhren ins Tal hinunter über die Brücke, an den alten Cottages vorbei, und auf die von grellen Scheinwerfern erleuchtete Hauptstraße, die George geblendet nur im Schneckentempo entlangkriechen konnte.
Immer noch bloß gute Freunde, und kein Liebespaar, bogen sie in die Seitenstraße Richtung Meer ab und bugsierten das Auto durchs Tor in den Garten des Guardhouse. Dort geschah es, nachdem sie die Scheinwerfer ausgeschaltet hatten und sich tastend den Weg zur Haustür bahnten, dass die Balance noch einmal kippte, und diesmal unwiderruflich.
Ihre ausgestreckten Hände berührten einander genau in dem Augenblick, als Marjorie plötzlich wieder all ihre Sorgen vor Augen standen: dass sie immer noch keine Entscheidung getroffen hatte, dass Mittwochabend war und sie schon Samstag wieder mit Ted im Bett liegen würde, dass Mutter im Haus drinnen so gelassen wie immer auf sie warten würde.
Diese Erkenntnis und die Berührung rissen erneut die zarte Grenze ein, die sie zwischen sich und George gezogen hatte – vielleicht auch zwischen sich selbst und ihrem inneren Selbst.
»Oh George!«, flüsterte sie. »George!«
Und dann lagen sie sich in der Dunkelheit in den Armen und küssten sich erneut, und sie drängte sich an ihn und machte ihm damit erst so recht bewusst, welch kostbares Fleisch er da unter seinen Händen hatte. Es war Wahnsinn, ein Taumel, der erst zerstob, als ein paar plaudernde Urlauber die Straße direkt neben ihnen entlanggingen. Dann machte sie sich von ihm los.
»Mutter muss das Auto gehört haben«, sagte Marjorie. »Sie findet es bestimmt komisch, wenn wir nicht hereinkommen. Küss mich, Liebling! Ja! Oh, wir müssen hinein. Morgen ...«
Sie drehte sich zur Haustür herum.
»Ich kann noch nicht hineingehen«, sagte Ely bewegt. »Geh nur vor. Ich komme in einer Minute nach.«
Mutter hatte die Socke für Derrick fast fertig gestrickt,auch wenn niemand weiß, welche Hoffnung oder welchen Hass sie mit hineingestrickt hatte.
»Hattet ihr eine schöne Fahrt, Liebes?«, fragte sie.
»Reizend!«, rief Marjorie. »Wir haben den Sonnenuntergang gesehen. Du auch?«
»Ja, ich auch. Wo ist George?«
»Oh, er hantiert noch mit irgendetwas an seinem alten Gefährt herum«, erzählte Marjorie lachend. »Er macht sich mehr Mühe damit als wir mit Anne und Derrick.«
Marjorie ging durchs Zimmer hindurch, um Hut und Mantel abzulegen. Sie glaubte, ihr weibliches Talent für Intrigen habe verhindert, dass ihre Mutter erriet, was geschehen war. Das ist möglich, doch Mrs Clair hatte einen scharfen Blick, und sie hatte es vermutlich doch erraten. Gewiss aber hat sie es später erraten, als George schließlich hereinkam, denn die Zigarette, die er draußen hektisch geraucht hatte, hatte seine Nerven nicht gänzlich beruhigt. Er war blass, und obwohl seine Augen glänzten, war sein Blick doch leer, so, als hätte er getrunken. Und er zog sich sofort mit einer Entschuldigung zurück und ging zu Bett.
11
Die Theorie scheint plausibel, dass es Marjories letzter Sinneswandel in der Dunkelheit des Gartens war, der die Geschehnisse auslöste und die Katastrophe ermöglichte. Die Küsse, die sie George beim Sonnenuntergang gegeben hatte – sogar diese besonderen Küsse –, wären vielleicht vergessen worden, und George hätte den Vorfall rückblickend vielleicht als einen unerklärlichen Ausrutscher Marjories aufgefasst, der ihr nie wieder unterlaufen würde. Doch sie hatte es sich im Garten noch einmal anders überlegt, und wenn sie es sich ein Mal anders überlegt hatte, würde sie es vielleicht auch noch ein weiteres Mal tun. Und dann war da dieses verhängnisvolle Wort »morgen«, das sie gesagt hatte. Marjorie hatte damit einfach nur gemeint – wenn sie denn überhaupt etwas damit gemeint hatte –, dass sie alles Nachdenken über diese Sache auf unbestimmte Zeit zu verschieben wünschte. Aber George in seiner Naivität meinte, das Wort bedeute buchstäblich, dass sie ihn morgen wieder küssen werde. Und es war dieser Gedanke, der ihm durch eine ruhelose Nacht half, in der er, wie jeder junge Liebhaber, sich all ihre
Weitere Kostenlose Bücher