Tödliche Pralinen
weißen Bart,
eine kleine Nickelbrille und große Angst.
„Sie kurieren wohl häufiger
Erkältungskrankheiten, als daß Sie Tetanusspritzen setzen, was?“ fragte ich zur
Begrüßung.
„Wie bitte?“ Er sah mich verblüfft an. „Sind Sie
vom Städtischen Gesundheitsamt?“ fragte er dann zurück und versuchte zu
lächeln.
„Nein, aber von einer anderen Behörde“,
erwiderte ich. „Polizei.“
Ich hielt ihm eine Visitenkarte in den Farben
der Trikolore hin. Ein Kurzsichtiger konnte sie sehr gut mit einem
Polizeiausweis verwechseln. Dabei handelte es sich lediglich um eine Quittung
über fünfzehn Francs, die ich in einem Anfall von Geistesverwirrung in die
Kasse der Ordnungshüter gezahlt hatte.
„Hm“, hüstelte der Arzt. „Ich stehe Ihnen zu
Diensten, Inspektor.“
„Sind Sie vorgestern nicht zufällig zu einem
Kranken gerufen worden, der sich am linken Daumen verletzt hatte? Eine ziemlich
schlimme Verletzung, er brauchte eine Tetanus-spritze...“
„Ja, das stimmt genau. Am frühen Nachmittag. Der
Mann hatte einen tiefen Schnitt von einer Metallsäge. Ich mußte ihm eine
Tetanusspritze geben und... äh... Ich wundere mich überhaupt nicht, Sie hier zu
sehen, Inspektor.“
„Und warum nicht?“
„Die Verletzung sah sehr merkwürdig aus.“
„Was war denn so merkwürdig daran?“
„Oh, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.
Die Verletzung als solche war so wie jede andere. Eine ernste Verletzung, der
Daumen wäre um ein Haar abgetrennt worden. Nur... Ich habe mich gefragt, wo der
Mann sich solch eine Verletzung hatte zuziehen können. Sie haben doch
sicherlich bemerkt, Inspektor, daß wir hier nicht von Fabriken umgeben sind.“
„Allerdings! Gibt es denn vielleicht hier in der
Gegend eine kleinere Werkstatt oder so was?“
„Die einzige Werkstatt, die mit Metall arbeitet,
befindet sich am anderen Ende der Ortschaft. Auf dem Weg dahin kommt man aber
an drei weiteren Arztpraxen vorbei.“
„Haben Sie den Patienten um eine Erklärung
gebeten?“ Der Arzt zögerte einen Augenblick, errötete leicht und entschloß sich
dann zu antworten:
„Auch wenn ich in Ihren Augen ein Feigling bin,
Inspektor, aber man kann von einem alten Mediziner am Ende seiner Laufbahn
nicht die Tapferkeit eines Polizisten erwarten! Um es offen zu sagen, ich habe
mich gehütet, mir weitere Gedanken zu machen oder Unruhe zu zeigen.“
„Sah der Mann denn bedrohlich aus?“
„Überhaupt nicht! Nun, er nicht... Aber bei ihm
war ein anderer, der... den…“
„Dem Sie freiwillig, wenn Sie ihm in einer
dunklen Gasse begegnen würden, die Brieftasche geben würden, bevor er Sie
darum... äh... bittet?“
„Genau!“
„Ein Landstreicher?“
„Im Gegenteil. Ein elegant gekleideter Herr...
zu elegant... mit düsterem Gesichtsausdruck und südlichem Akzent. Marseille,
würde ich sagen.“
„Haben die beiden Sie gebeten, Stillschweigen
über den Unfall zu bewahren?“
Der Arzt wurde wieder sichtlich verlegen. Dann
antwortete er:
„Ich fürchte, Sie bekommen von mir eine schöne
Meinung, Inspektor! Aber um auch hier die Wahrheit zu sagen: Hätten die Kerle
mir befohlen, den Mund zu halten, dann würde ich Ihnen nichts von dem Vorfall
sagen. Und jetzt bin ich mir auch nicht mehr so sicher…“ schloß er ängstlich.
Ich beruhigte ihn und bat ihn um eine
Beschreibung des Verletzten. Sie paßte haargenau auf Frédéric Tanneur. Der Arzt
fügte hinzu, der Mann habe einen Overall getragen, und seine Hände seien die
eines Arbeiters gewesen.
Ich verabschiedete mich und suchte ein Bistro.
Zweihundert Meter weiter zum Zentrum hin fand ich eins. Dort trank ich einen
Weißwein und nutzte die Tatsache aus, daß mein Anzug fast neu war und nach
englischem Tuch aussah. Er erlaubte mir, den Millionär zu spielen. Ich
erkundigte mich bei dem Wirt, ob es hier in der Gegend was Hübsches zu mieten
gebe. Zum Beispiel die Villa außerhalb, die wie ein Schloß aussehe... Nein, lachte
der Wirt, er wohne zwar noch nicht lang in diesem Nest, aber eins könne er mir
mit Sicherheit sagen: Das Schloß, wie ich es nenne, sei weder zu mieten noch zu
kaufen: Es gehöre einem gewissen Monsieur Francis... Francis... Tja, den
Nachnamen habe er leider vergessen. Ein Original sei er, ein Philanthrop, ein
Erfinder, wenn man den Leuten hier glauben wolle...
Philanthrop? Ja. Genauso wie ich
Polizeiinspektor war. Oder der Neffe von Rothschild.
* * *
Frédéric Tanneur hatte sich also in dem
Waldschlößchen verletzt. Dort hatte
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