Tödliche Saturnalien
eine Vorstellung von dem Kummer, den sie dir bereiten können? Wenn wir es hier lediglich mit einem Haufen Bäuerinnen und Dörflern zu tun hätten, läge der Fall anders.
Dann das Opfer«, fuhr er fort, und der nächste Finger verschwand. »Wenn es sich bei dem unglücklichen jungen Mann um eine Sohn aus gutem Hause gehandelt hätte, würde der Mob die Curia belagern, damit etwas unternommen würde. Hast du ihn erkannt?«
»Nein«, mußte ich zugeben.
»Wahrscheinlich war es ein ausländischer Sklave. Juristisch gesehen eine entbehrliche Person, bloßer Besitz ohne jede Rechte. Die Opferung mag eine Übertreibung geltender Gesetze darstellen, doch das Opfer selbst ist ohne Belang.«
Er senkte die Hände und ließ sie auf seine Knie fallen. »Das Schlimmste jedoch, Decius, ist die Jahreszeit. Kein amtierender Praetor oder Aedile wird so kurz vor Ablauf der Amtsperiode noch ein Verfahren in Gang setzen wollen.«
»Es gibt immer noch die Magistraten des kommenden Jahres«, sagte ich.
»Und wer von ihnen wird eine dubiose Anklage erheben wollen, in der er den Mann hineinziehen muß, der im kommenden Jahr der ungekrönte König Roms sein wird? Decius«, fügte er sanfter hinzu, »glaubst du, daß du den Ort überhaupt wiederfinden würdest?«
Ich überlegte und versuchte mich zu erinnern, wo genau ich die Via Aurelia verlassen und die kleine Nebenstraße genommen hatte, wo genau ich die Eule hatte schreien hören und ihrem Ruf auf den Trampelpfad gefolgt war. Und wo an diesem Pfad hatte das einsame Wäldchen gelegen?
»Ich glaube schon«, sagte ich unsicher. »Das vaticanische Feld ist ein großes Gebiet, aber wenn ich lange genug suchen würde …«
»Das habe ich mir gedacht«, meinte Cicero. »Wir feiern die Saturnalien, also wette ich meine Bibliothek gegen deine Sandalen, daß du ihn schon am Ende des Monats nicht mehr wiederfinden würdest. Und ich wette weiter, daß du, selbst wenn du den Ort finden würdest, keinerlei Spuren eines Opfers antreffen würdest. Keine Knochen, keine magischen Utensilien, bloß ein verbranntes Fleckchen Erde, und das wird vor Gericht kaum reichen.«
»Das klingt ziemlich entmutigend«, klagte ich.
»Tut mir leid, daß ich dir nicht mehr Trost oder Hilfe anbieten kann«, sagte er.
»Du warst mir eine große Hilfe«, beeilte ich mich zu versichern. »Wie immer hast du die Dinge geordnet und auf den Punkt gebracht. So hast du mich wahrscheinlich davor bewahrt, mich zum Narren zu machen.«
Er grinste, ein schöner Ausdruck auf seinem ansonsten traurigen Gesicht. »Was wäre das Leben«, sagte er schmunzelnd, »wenn wir uns nicht hin und wieder zum Narren machen könnten? Bei mir ist es eine regelmäßige Angewohnheit. Kann ich dir sonst noch irgendwie weiterhelfen?«
»Kannst du mir einen Rat geben, was ich jetzt tun soll?« fragte ich.
»Setze deine Ermittlungen zu Celers Tod fort. Konzentriere dich auf die Fakten in diesem Fall und vergiß die Hexen und ihre Rituale. Was du dort draußen entdeckt hast, ist ein uralter Kult, der sich nie ganz ausrotten lassen wird und eine Horde gelangweilter, sensationslüsterner Frauen benutzt ihn, um ihr aristokratisches Blut in Wallung zu bringen.« Er erhob sich. »Und jetzt werde ich mich wieder in die Festlichkeiten stürzen. Io Saturnalia, Decius.«
»Io Saturnalia, Marcus Tullius«, rief ich ihm nach, als er die Stufen hochstieg.
Nachdem er gegangen war, blieb ich noch eine Weile sitzen und dachte nach. Er hatte ohne Frage recht. Zu diesem Zeitpunkt ein juristisches Verfahren in Gang zu setzen, wäre nicht nur zwecklos, es würde mich auch zum Gespött der Leute machen. Nur der Gedanke, daß mein Vater und seine alten Spießgesellen nach einer Möglichkeit suchen würden, meine Entdeckungen nutzbar zu machen, tröstete mich ein wenig. Wo strikte Rechtsstaatlichkeit scheiterte, konnte politisches Intrigantentum möglicherweise etwas ausrichten.
Wohin sollte ich jetzt gehen? Ich überlegte, wo ich vom Pfad meiner eigentlichen Ermittlung abgekommen war, und entschied, daß es während dieser Befragung Furias gewesen war. Ich hatte mich von ihren Gauklertricks ablenken lassen.
Während meiner Zeit im Exil hatte ich mit ausgesprochenem Widerwillen Seminare in Philosophie, Logik und artverwandten Themengebieten besucht. Hin und wieder befassen sich derartige Seminare auch mit den notwendigen Künsten der Jurisprudenz und der Rhetorik, da es kaum etwas Schlimmeres gibt, als vor Gericht mitten im Plädoyer festzustellen, daß man sich
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