Tödliche SMS (German Edition)
Hinter einzelnen Fenstern brannte noch Licht, trotz der fortgeschrittenen Stunde. Es machte ihr Spaß zu überlegen, was hinter den Fassaden gerade passierte: Gespräche, Liebe, Mord? Letzteres drängte sich immer öfter in ihre Gedankenwelt. Sie hoffte, dass das eines Tages wieder aufhören würde. So wie auch ihre Panikattacken aufgehört hatten, bis jetzt.
Wenig später erreichten sie das Mietshaus. Das Taxi blieb genau vor dem wuchtigen Haustor stehen. Der Fahrer war sehr umsichtig. Er wartete, bis sich das schwere Gittertor hinter ihr geschlossen hatte, dann fuhr er ab. Wahrscheinlich hatte er selbst eine Tochter, um die er sich nachts sorgte.
Max hatte ihr sein Bett angeboten. Er hätte sich auf dem Sofa zusammengerollt. Aber Andrea wollte plötzlich allein sein. Sie musste über so einiges nachdenken. Ließ der Tod von Silke alte Wunden aufbrechen? Wie verhielt es sich mit ihrer Angst, mit ihrem Misstrauen? Die Schatten der Vergangenheit krochen langsam an ihren Beinen hoch, drückten ihr mit knochigen Fingern die Kehle zu.
„Feige Nuss“, murmelte sie. „Das ist ja schrecklich, wie wenig Vertrauen du in dich selbst hast. Nicht du bist tot, sondern Silke. Sie würde missbilligend den Kopf schütteln, wenn sie dich so sehen könnte.“
Sie atmete geräuschvoll ein und wieder aus. Das brachte Ordnung in ihre Gefühlswelt. Dann nahm sie sich für den nächsten Tag vor, die Wohnung ordentlich aufzuräumen und endlich damit zu beginnen, Silkes Sachen wegzupacken. Vielleicht würde sie sogar etwas finden, das die Polizei als unwichtig empfunden hatte, aber ihr einen Hinweis auf Silkes Mörder geben würde. Doch so recht glaubte sie nicht daran. Es war vielmehr ein Strohhalm, an den sie sich klammerte, wie eine Ertrinkende an einen Ast, der ins reißende Wasser ragte.
Im Vorbeigehen leerte sie noch den Briefkasten. Oberflächlich sah sie die Post durch, aber außer Werbung und einem einmaligen Sonderangebot für einen Besuch im Fitnessstudio war nichts darunter.
Es war schon irgendwie eigenartig. Da starb jemand und trotzdem wurde der Briefkasten mit Reklame vollgestopft. So als könne man damit die Endgültigkeit des Todes ignorieren.
Im Innenhof blieb sie stehen, warf alles in den Altpapiercontainer. Langsam tastete sich ihr Blick die Fassade entlang, nach oben. Der Anblick der dunklen Fenster ihrer Wohnung erfüllte sie mit Grauen.
Wenig später betrat sie die Wohnung, schob nachdrücklich die Tür ins Schloss, schmiss ihre Schlüssel auf den Tisch neben der orangen Couch und ging in die Küche. Dort schenkte sie sich aus einer offenen Flasche Rotwein in ein Glas ein und schlenderte ins Wohnzimmer. Sie sah sich um. Es war nicht mehr ihr Zuhause. Sie machte Licht, suchte eine bestimmte CD. Sie lag obenauf. Es war Silkes Lieblings-CD. Sie nahm sie aus der Hülle, legte sie in den Player und löschte das Licht.
Als Barbra Streisand zu Over the rainbow ansetzte, stand sie bereits dicht am Fenster, starrte in den nächtlichen Himmel über Wien und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie dachte daran,wie oft ihr dieses Lied schon über schwere Stunden hinweggeholfen hatte. Jedes Mal, wenn sie vor Angst zu ersticken drohte, jedes Mal, wenn Panik ihren Körper zu sprengen drohte, hatte Silke diese CD eingelegt. Gemeinsam hatten sie den Refrain laut und falsch mitgesungen. So lange, bis Andrea sich beruhigt hatte. Er konnte ihr nichts mehr tun.
Der letzte Ton lag noch im Raum, als Andreas Handy eindringliche Töne von sich gab. War Max noch etwas eingefallen?
Aber die Nachricht, die die SMS enthielt, war nicht von ihm: Du warst bei ihm, ich beobachte dich!
Sie war knapp davor umzukippen, stützte sich ab und schaffte es, auf die Couch zu gleiten. Ihr Kopf drehte sich, es war zu viel. Da waren sie wieder, ihre drei Feinde: Angst, Verfolgungswahn, Panik. Die Polizei hatte doch Silkes Handy gefunden. Was sollte das jetzt? Sie starrte auf das Display, kein Absender, kein Name, keine Telefonnummer.
Mit wenigen raschen Griffen hatte sie Remo Bauers Karte aus ihrer Tasche hervorgekramt. Es läutete viermal, bis er abhob. Ohne sich für die späte Störung zu entschuldigen, begann sie aufgeregt zu sprechen: „Andrea Reiter ist hier! Herr Bauer, können Sie bitte kommen? Ich habe schon wieder eine SMS erhalten!“
Eine halbe Stunde später stand Remo Bauer neben Andrea in der Küche und schrieb den Wortlaut der Textnachricht auf seinen Notizblock. Andrea beobachtete ihn dabei, folgte dem Weg seiner Finger über das
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