Toedliche Spiele
den dünnen Morgenrock aus, den ich anziehen durfte. Da stehe ich nun, splitternackt, während die drei mich umkreisen und mit Pinzetten die letzten Härchenreste beseitigen. Eigentlich müsste es mir peinlich sein, aber sie sind so andersartig, dass es mir so wenig ausmacht, als würde ein Trio seltsam gefärbter Vögel zu meinen Füßen picken.
Die drei treten zurück und bewundern ihr Werk. »Ausgezeichnet! Jetzt siehst du fast aus wie ein Mensch!«, sagt Flavius und alle lachen.
Ich zwinge meine Lippen zu einem Lächeln, um meine Dankbarkeit zu zeigen. »Danke«, flöte ich. »In Distrikt 12 gibt es kaum Anlass, hübsch auszusehen.«
Das nimmt sie endgültig für mich ein. »Natürlich gibt es den nicht, arme Kleine!«, sagt Octavia und ringt betrübt die Hände.
»Aber keine Sorge«, sagt Venia. »Wenn Cinna erst mit dir fertig ist, wirst du absolut hinreißend aussehen!«
»Versprochen! Weißt du, ohne die Haare und den ganzen Dreck siehst du gar nicht mehr so schlimm aus!«, sagt Flavius aufmunternd. »Kommt, wir rufen Cinna!«
Sie eilen aus dem Raum. Es fällt schwer, mein Vorbereitungsteam zu hassen. Es sind solche Schwachköpfe. Aber ich weiß, dass sie mir auf ihre komische Art zu helfen versuchen.
Ich betrachte die kalten weißen Wände und den Fußboden und widerstehe dem Impuls, den Morgenrock aufzuheben. Dieser Cinna, mein Stylist, wird mir sowieso befehlen, ihn wieder auszuziehen. Deshalb fahre ich mit den Händen über meine Frisur, das Einzige an mir, was das Vorbereitungsteam unangetastet lassen sollte. Meine Finger streicheln den seidigen Zopf, den meine Mutter so sorgfältig arrangiert hat. Meine Mutter. Ich habe ihr blaues Kleid und die Schuhe auf dem Boden meines Zugabteils liegen lassen, ohne auch nur daran zu denken, sie aufzuheben, ein Stück von ihr zu behalten, ein Stück Heimat. Jetzt tut es mir leid.
Die Tür geht auf und ein junger Mann kommt herein; das muss Cinna sein. Ich bin verblüfft, wie normal er aussieht. Die meisten Stylisten, die im Fernsehen interviewt werden, sind so gefärbt, so schablonenhaft und schönheitschirurgisch verändert, dass sie einfach grotesk wirken. Aber Cinnas kurz geschnittene Haare haben offenbar noch ihr natürliches Braun. Er trägt ein schlichtes schwarzes Hemd und eine Hose. Das einzige Zugeständnis scheint der goldglitzernde Eyeliner zu sein, der mit leichter Hand aufgetragen wurde. Er betont die goldenen Flecken in seinen grünen Augen. Und trotz meiner Abscheu vor dem Kapitol und seinen scheußlichen Moden muss ich mir eingestehen, dass das sehr gut aussieht.
»Hallo, Katniss. Ich bin Cinna, dein Stylist«, sagt er mit ruhiger Stimme, die kaum affektiert klingt.
»Hallo«, erwidere ich vorsichtig.
»Warte einen Moment, ja?«, bittet er und geht um meinen nackten Körper herum. Er berührt mich nicht, nimmt mit seinen Blicken aber jeden Zentimeter wahr. Ich widerstehe dem Impuls, die Arme vor der Brust zu verschränken. »Wer hat dein Haar frisiert?«
»Meine Mutter«, sage ich.
»Sehr schön. Richtig klassisch. Und in fast perfekter Harmonie mit deinem Profil. Sie hat geschickte Hände«, sagt er.
Ich hatte eine extravagante Person erwartet, jemand Älteren, der verzweifelt versucht, jung auszusehen, jemanden, der mich betrachtet wie ein Stück Fleisch, das für die Schlachtplatte zubereitet werden soll. Cinna ist ganz und gar nicht so.
»Du bist neu, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal gesehen habe«, sage ich. Die meisten Stylisten sind bekannt, Konstanten im dauernd wechselnden Reservoir der Tribute. Manche sind schon dabei, seit ich auf der Welt bin.
»Ja, dies ist mein erstes Jahr bei den Spielen«, sagt Cinna.
»Du hast Distrikt 12 abbekommen«, sage ich. Neulinge landen im Allgemeinen immer bei uns, dem unbeliebtesten Distrikt.
»Ich habe um Distrikt 12 gebeten«, sagt er ohne weitere Erklärung. »Zieh doch etwas über und wir plaudern ein bisschen.«
Während ich den Morgenrock überziehe, folge ich ihm durch eine Tür in einen Salon. Zwei rote Sofas stehen einander gegenüber, dazwischen ein niedriger Tisch. Drei Wände sind kahl, die vierte besteht vollständig aus Glas und bildet ein Fenster zur Stadt. Am Licht kann ich erkennen, dass es Nachmittag sein muss, auch wenn der Sonnenhimmel inzwischen mit Wolken bedeckt ist. Cinna bietet mir einen Platz auf einem der Sofas an und setzt sich mir gegenüber. Seitlich am Tisch betätigt er einen Knopf. Die Tischplatte springt auf und von unten wird eine
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