Tödliche Täuschung
war. Sie hatte das Geheimnis so lange gehütet, dass sie sich bei niemandem außer Wolff sicher fühlte, dass er es nicht enthüllen würde. Vielleicht hatte sie es unter dem Siegel der Verschwiegenheit einer Freundin anvertraut, im Gegenzug für irgendein anderes romantisches Geheimnis. Aber was würde die Freundin letzten Endes daran hindern, das Geheimnis auszuplaudern? Die Versuchung, mit einer derartigen Sensation Aufmerksamkeit zu erregen, konnte eines Tages übermächtig werden.
Nein, es war klüger, sich niemandem anzuvertrauen. Zu viel hing davon ab. Und als der Fall erst einmal so weit gediehen war, war es zu spät, auf Barton Lamberts Stillschweigen zu hoffen. Wenn er es jemandem im Zorn erzählt hätte, ganz gleich, wie sehr er es später bedauern mochte, hätte er nichts mehr zurücknehmen können.
Bevor das alles gewesen war, hätte Monk es für bedeutungslos gehalten. Was spielte es für eine Rolle, ob eine bestimmte Person ein Mann oder eine Frau war? Die Kunstwerke waren dieselben. Warum sollte es nicht jeder wissen? Und wenn sie deswegen hier keine Aufträge mehr erhielt, dann hätte sie ja vielleicht nach Italien, Frankreic h oder sonst wohin gehen können!
Aber Melville hatte zwölf Jahre in England verbracht und einige der schönsten Gebäude im Land entworfen. Sie wollte nicht mit ansehen müssen, wie man ihre Werke nur aus dem Grund schmähte, da sie eine Frau war. Und sie hatte Recht gehabt. Genau das geschah bereits. Sie war bereit gewesen, das Risiko einzugehen und darum zu kämpfen, hier in diesem Land zu überleben.
Und natürlich konnte sie, sobald die Verhandlung erst begonnen hatte, nicht mehr fortgehen. Außerdem schien sie wirklich geglaubt zu haben, der Prozess würde anders ausgehen.
Was also hatte sie bewogen, ihre Meinung zu ändern und Belladonna zu nehmen… mitten am Nachmittag?
Er blieb am Fenster stehen und starrte in den Regen hinaus. Niemanden sonst interessierte diese Fragen jetzt, bis auf Rathbone natürlich, und der tat es aus gefühlsmäßigen Gründen. Er hasste Niederlagen und Schuldgefühle. Monk lächelte still vor sich hin. Ihm selbst war diese Erklärung weitaus vertrauter, obwohl sie ihm genauso wenig gefiel.
War das der Grund, warum Keelin Melville sich das Leben genommen hatte? Schuldgefühle?
Aber welche? Die Kränkung, die sie Zillah Lambert zugefügt hatte, ließ sich sehr leicht erklären. Es war ein Fehlverhalten in privaten Dingen, aber nichts, das einen Selbstmord rechtfertigte.
Hatten nicht außerdem Menschen mit genialer Veranlagung die Neigung, besser auf sich zu achten? Er versuchte, sich daran zu erinnern, was er über das Leben berühmter großer Menschen wusste. Viele von ihnen hatten andere verletzt, waren exzentrisch und egoistisch gewesen und hatten nur ein Ziel verfolgt. Aber es waren die Menschen in ihrer Umgebung, die sie schlecht behandelten, nicht sich selbst. Sie waren zu besessen von ihrer künstlerischen Passion. Manchmal trieben sie Raubbau mit ihren Kräften oder wurden von Krankheiten oder Unfällen dahingerafft. Viele starben jung. Aber er konnte sich auf kein Beispiel eines solchen Menschen entsinnen, der sich das Leben genommen hätte, weil er einer Frau übel mitgespielt hatte und sich mit Schuldgefühlen herumquälte!
War Keelin Melville so anders gewesen, nur weil sie eine Frau war? Er bezweifelte es. Aber was hatte das alles zu bedeuten?
Je länger er über diese Bauwerke voller Licht nachdachte , über die klaren Linien, die bis in den Himmel zu streben schienen, über das Gefühl von Wohlbehagen und Frieden, das er dort empfunden hatte, umso weniger konnte er glauben, dass Keelin Melville freiwillig aus dem Leben geschieden war.
War es vorstellbar, dass irgendjemand anderer die Hand im Spiel hatte?
Warum? Was war an diesem Tag zuvor noch geschehen, das sie für jemanden gefährlich machte? Wenn sie etwas über Zillah gewusst hätte, hätte sie das gewiss vorher gesagt, lange bevor Isaac Wolff in die ganze Angelegenheit hineingezogen wurde.
Er schob die Hände in die Hosentaschen. Draußen regnete es mittlerweile heftiger. Die Rinnsteine liefen über. Ein Lakai, der hinten auf einer Kutsche stand, war bis auf die Haut durchnässt. Ein streunender Hund platschte fröhlich durch die Pfützen.
Ein Mann ging mit einem Regenschirm vorbei, der ihm allerdings nur wenig nutzte.
Monk drehte sich wieder zum Kamin. Was war das Ergebnis von Keelin Melvilles Tod? Der Fall war abgeschlossen. Es gab nichts mehr zu sagen,
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