Tödliche Täuschung
arrangiert, ohne mich zu fragen, und ich war töricht genug, nicht zu begreifen, dass man es als ausreichend erachtete, mich von den Vorgängen indirekt in Kenntnis zu setzen - durch das allgegenwärtige Gerede darüber. Ich war blind, das gebe ich unumwunden zu, naiv, wenn Sie wollen.« Sein Kinn reckte sich vor. »Ich gebe zu, dass ich Zillahs Gefühlen nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt habe, weil ich in ihr nie mehr als nur eine Freundin sah, die ich sehr mochte. Der Gedanke, dass sie anders empfinden könnte, ist mir einfach nicht gekommen. Das war töricht, wenn man nun mit der Klarheit besseren Wissens zurückblickt. Ich werde diesen Fehler nicht noch einmal machen.«
»Das genügt nicht!«, rief Rathbone verbittert.
»Mehr gibt es nicht.« Melvilles Augen blitzten voller Selbstironie auf. »Ich könnte sagen, ich hätte plötzlich eine Neigung zum Wahnsinn in meiner Familie entdeckt, wenn Ihnen das behagt, aber da es nicht der Wahrheit entspricht, ließe es sich wohl unmöglich beweisen. Sie müssten schon Narren sein, mir zu glauben. Eine solche Bedeutung könnte jeder junge Mann aufstellen, wenn keine Beweise vonnöten wären.«
»Nur dass es ihm auch für die Zukunft jedes Verlöbnis unmöglich machen würde«, bemerkte Rathbone. »Und vielleicht auch andere Dinge. Es ist eine Tragödie, die ma n niemandem wünschen würde.«
Die Ironie verschwand aus Melvilles Gesicht und ließ nur Schmerz zurück. »Nein, natürlich nicht. Es liegt mir fern, leichtfertig über das Elend des Wahnsinns zu sprechen, aber das Ganze ist eine Farce. Es tut mir Leid.«
»Es wird Ihnen nicht mehr wie eine Farce vorkommen, wenn die Geschworenen gegen Sie entscheiden und Ihnen Wiedergutmachung und Schadensersatz auferlegen«, antwortete Rathbone und ließ Melville dabei nicht aus den Augen.
»Ich weiß«, antwortete Melville mit einem F lüsterton und wandte den Blick ab. »Aber es gibt nichts, was ich tun könnte, außer den besten Anwalt hinzuzuziehen, den es gibt, und alles Vertrauen in seine Fähigkeiten zu setzen.«
Rathbone brummte etwas Unverständliches. Er hatte sein Äußerstes gegeben, und es war nicht genug: Es ließ Melvilles Arm los und stand auf. Die Saaldiener warteten. »Sie wissen, wo Sie mich finden, falls Sie Ihre Meinung ändern sollten oder Ihnen etwas Nützliches einfällt.«
Melville erhob sich ebenfalls. »Ja, selbstverständlich. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Sir Oliver.«
Rathbone seufzte.
Zuerst wollte Rathbone nach Hause fahren und sich einen langen, ruhigen Abend gönnen, um den Fall in Gedanken noch einmal durchzugehen und herauszufinden, ob ihm vielleicht etwas entgangen war. Aber die Aussicht darauf war wenig viel versprechend. Er hatte erst eine halbe Stunde in seinem Arbeitszimmer verbracht, außer Stande, sich zu entspannen, als er die ganze Idee fallen ließ und seinem Diener mitteilte, dass er ausgehen werde und nicht wisse, wann er zurück wäre.
Er nahm einen Hansom, der ihn bis nach Primrose Hall brachte, wo sein Vater wohnte. Gerade als die Schatten länger zu werden begannen und die Sonne an einem fahlen Himmel unterging, kam er dort an.
Henry Rathbone befand sich am ge genüberliegenden Ende des länglichen Rasenstücks und starrte den Apfelbaum an , dessen knorrige Zweige sich unter den Blütenknospen zu biegen schienen. Er war größer als sein Sohn und auch hagerer, und seine unablässigen Studien hatten ihm einen leicht gebeugten Gang eingetragen. Vor seiner Pensionierung war er Mathematiker und gelegentlich auch Erfinder gewesen. Jetzt versuchte er sich - zum Vergnügen und um seinen Geist zu beschäftigen - auf allen möglichen Gebieten. Er fand das Leben zu interessant, um auch nur einen einzigen Tag davon zu vergeuden. Seine eigenen Eltern waren von bescheidener Herkunft gewesen; tatsächlich war sein Großvater mütterlicherseits Schmied und Stellmacher gewesen. Er beanspruchte nicht für sich, etwas Besseres zu sein, begegnete allerdings Menschen, die zwar Verstand besaßen, diesen aber nicht zu gebrauchen schienen, mit großer Ungeduld.
»Guten Abend, Vater!«, rief Rathbone, als er durch die Balkontüren auf die gepflasterte Terrasse und dann auf den Rasen trat.
Henry drehte sich überrascht um.
»Hallo, Oliver! Komm her und sieh dir das an. Weißt du, dass das Geißblatt in dieser Hecke bis Weihnachten unentwegt geblüht hat? Und jetzt kommen schon wieder die ersten Triebe durch. Und im Obstgarten wachsen überall die Primeln. Wie geht es dir?«
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