Tödliche Täuschung
Er sah ihn eindringlich an. Das Licht war sehr klar und verriet vielleicht mehr, als die grellere Sonne es vermocht hatte. »Was ist los?«
Oliver trat zu ihm und blieb stehen. Er schob die Hände in die Hosentasche und betrachtete die Hecke mit dem Geißblatt und die kahlen Zweige des Obstgartens dahinter.
»Ein schwieriger Fall«, antwortete er. »Ich hätte ihn von Anfang an ablehnen sollen. Jetzt ist es zu spät.«
Henry wandte sich dem Haus zu. Die Sonne stand jetzt direkt über den Bäumen und würde jeden Augenblick dahinter verschwinden. In der Luft lag ein goldener Schimmer, und es war merklich kälter als noch vor wenigen Minuten. Ein Starenschwarm kreiste über einigen entfernten Pappeln, deren Kronen immer noch kahl waren.
Henry nahm eine Pfeife aus der Tasche, machte sich aber nicht die Mühe, auch nur so zu tun, als zünde er sie an. Es schien ihm zu gefallen, sie einfach nur in der Hand zu halten und beim Sprechen hin und herzuschwenken, um irgendeine Bemerkung zu unterstreichen.
»Willst du mir davon erzählen?«, fragte er. Er zeigte auf einige Buschwindröschen. »Haben sich selbst ausgesät«, bemerkte er. »Ich weiß nicht, wie sie dahingekommen sind. Eigentlich wollte ich sie im Obstgarten haben. Um was für einen Fall handelt es sich?«
»Bruch des Ehegelöbnisses«, erwiderte Oliver.
Henry sah ihn scharf und mit merklicher Überraschung an , enthielt sich aber jeden Kommentars.
Oliver erklärte es ihm dennoch. »Zuerst habe ich abgelehnt.
Dann bin ich am selben Abend zu einem Ball gegangen, und dort ist mir dann plötzlich bewusst geworden, wie die Matronen da ihre Töchter aufmarschieren ließen und um jeden verfügbaren unverheirateten Mann wetteiferten, sodass ich mir selbst wie ein Beutetier vorkam. Ich konnte mir vorstellen, wie sie einen Mann in die Ecke trieben, sodass es weder ihm noch dem armen Mädchen möglich wäre, sich mit Anstand oder Würde zurückzuziehen.«
Henry nickte nur, schob sich den Pfeifenstiel für einen Moment in den Mund und biss darauf.
»Man erwartet zu viel von der Ehe«, fuhr Oliver fort, als sie das Ende der Wiese erreichten und über die Terrasse zur Tür gingen. Er hielt sie auf, während Henry in den Raum trat, dann folgte er ihm und schloss sie hinter sich.
»Ziehst du bitte auch die Vorhänge zu, ja?«, bat Henry. Er ging zum Feuer, nahm das Kamingitter ab und legte Kohlen nach.
Oliver trat nun ebenfalls vor den wärmenden Kamin und machte es sich in einem Sessel bequem. Der Raum wirkte beruhigend auf ihn, vermittelte ein Gefühl der Vertrautheit mit seinen Büchern und den verschiedenen Möbelstücken, die er seit seiner Kindheit kannte.
»Ich will die Ehe an sich natürlich nicht abwerten«, fuhr er fort. »Aber man sollte nicht erwarten, dass ein anderer sämtliche Erwartungen in unserem Leben erfüllt, dass er uns einen gesellschaftlichen Status verleiht, ein Dach über dem Kopf, das tägliche Brot, Kleider für unsere Blöße und einen Daseinszweck obendrein gibt, ganz zu schweigen von Freude, Hoffnung und Liebe, kurz, einen Menschen, der all unsere Sehnsüchte erfüllt und moralische Urteile für uns fällt.«
»Gütiger Himmel!« Henry lächelte, aber in seinen Augen lag eine Spur Besorgnis. »Wo hast du denn nur diesen Eindruck gewonnen?«
Oliver trat unversehens den Rückzug an. »Hm, na schön, ich übertreibe. Aber so wie diese Mädchen gesprochen haben, scheinen sie sich wirklich alles von der Ehe zu erhoffen. Ich verstehe, warum Melville in Panik geraten ist. Solche Erwartungen kann einfach niemand erfüllen.«
»Und glaubte er ebenfalls, dass man dergleichen von ihm erwarten würde?«, erkundigte Henry sich.
»Ja.« Oliver erinnerte sich lebhaft an den Eindruck, den Zillah ihm an jenem Abend vermittelt hatte. »Ich habe seine Verlobte kennen gelernt. Ihr Gesicht leuchtete, und ihr Blick war verträumt. Man hatte gedacht, dass sie nur noch einen Schritt vom Paradies entfernt sei.«
»Vielleicht«, räumte Henry ein. »Aber die Liebe kann im Licht fremder Augen bisweilen recht absurd erscheinen. Ich glaube, du sprichst da eine Bindungsangst an, die nicht ungewöhnlich ist. Aber die Gesellschaft könnte nicht existieren, wenn wir unsere Versprechungen nicht einhalten würden - und diese eine mehr als alle anderen.« Er sah ihn freundlich an, schien aber gleichzeitig bis auf den Grund seiner Seele zu schauen. »Bist du wirklich sicher, dass da nicht dein eigenes anspruchsvolles Wesen spricht, dein eigenes Widerstreben, auf
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