Tödliche Unschuld
weiter und so fort. Dwier hätte also Cogburn eine Falle stellen müssen, weil sein Zeuge völlig wertlos war.«
»Dann hat es also nichts genutzt, dass seine Eltern mit ihm zu den Bullen gelaufen sind«, sah Roarke seine These bestätigt, fuhr jedoch, bevor sie sich aufplustern konnte, fort. »Lies den Bericht von dieser Price ein bisschen weiter. Sie sagt, dass die Schulleistungen des Jungen stetig abgenommen haben und dass sein Verhalten sowohl in der Schule als auch in der Familie äußerst schwierig war. Entweder hat er schmollend in seinem Zimmer rumgesessen oder er hat Streit gesucht. Die Wurzel allen Übels war also nicht, dass er das Jazz gekauft hat, sondern lag in dem Jungen und in seiner Familie selbst.«
»Vielleicht, aber im Ergebnis haben seine Eltern überreagiert, der Cop hat in seinem Eifer, Cogburn festzunageln, die Dinge überstürzt, die Sozialarbeiterin hat irgendwelche Plattitüden formuliert und das System als Ganzes hat dem Jungen gegenüber jämmerlich versagt.«
»So siehst du diese Sache?«
»Ich sehe, dass der verdammte Dwier seinen Job nicht anständig gemacht hat.« Sie schaute auf den Bildschirm und drehte dabei geistesabwesend eine Strähne von Roarkes schwarzem Haar um einen ihrer Finger. »Er und die anderen hingegen haben offenkundig nur den letzten Teil gesehen, das Versagen des Systems.
Aber du hast Recht, das ist nicht Grund genug, um die Akte zu versiegeln. Also steckt mehr dahinter. Sehen wir uns mal die Akten Fitzhugh an.«
Auch eine dieser Akten war nicht nur versiegelt, sondern obendrein blockiert. Inzwischen allerdings hatte Roarke den Bogen raus, weshalb er den zusätzlichen Blocker innerhalb von wenigen Sekunden überwand. »Minderjährige Anzeigeerstatter, Jansan, Rudolph … Ah, hier haben wir’s. Sylvia und Donald Dukes erstatten Anzeige im Namen ihres vierzehnjährigen Sohnes Devin.«
»Ja, ja, zuständige Sozialarbeiterin Clarissa Price, ermittelnder Beamter Thomas Dwier.
Habe ich mir’s doch gedacht.«
»Da ist ein -«
»Still«, wies sie ihn an.
Mit einem »Geschieht mir sicher recht« lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete sie bei ihrer Arbeit.
»Dieses Mal endet der Kleine sogar im Krankenhaus. War vergewaltigt worden, hatte ein verstauchtes Handgelenk und jede Menge blauer Flecken im Gesicht. Laut toxikologischem Bericht hatte er nicht nur Alkohol getrunken, sondern erneut Jazz geraucht.
Hatte inzwischen ein paar Piercings, am Schwanz und in der Brust. Wieder landen sie bei Dwier. Nur dass das kein Zufall war, weil er vorher extra von Clarissa Price angerufen worden ist. Irgendetwas läuft zwischen den beiden, das steht eindeutig fest.«
Sie zog ihren Notizblock aus der Tasche und schrieb sich ein paar Dinge auf. »Ein Arzt, ein gewisser Stanford Quillens, stellt die Vergewaltigung fest. Bleibt abzuwarten, ob sein Name zusätzlich in anderen Fällen auftaucht oder ob er unbeteiligt ist. Aber den Namen Fitzhugh kriegen sie erst nach vierundzwanzig Stunden aus dem Jungen raus. Er will nicht darüber reden. Weshalb glauben immer alle, dass man darüber reden will? Mischen ihn am nächsten Tag sogar noch bei sich zu Hause auf. Price, Dwier, die Eltern, eine Psychologin. Wie heißt sie? Marianna Wilcox. Hätten einen Mann auswählen sollen. Einer Frau schüttet er ganz sicher nicht sein Herz aus. Wie dämlich sind diese Leute eigentlich?
Computer, ich brauche eine Kopie der Vernehmung des Opfers auf dem Gerät in meinem eigenen Büro.«
Trotzdem las sie den Text schon einmal schnell im Stehen durch, und bereits nach ein paar Sätzen zog sich ihr Magen zusammen, und sie hatte einen fauligen Geschmack im Mund.
Allzu viele dieser Fragen waren ihr bekannt. Allzu viele dieser Fragen hatte man auch ihr einmal gestellt.
WER HAT DIR DAS ANGETAN?
WIR WOLLEN DIR HELFEN, ABER DAZU MUSST DU UNS ERZÄHLEN, WAS PASSIERT IST.
WENN ERST MAL ALLES DRAUSSEN IST, WIRD ES DIR BESSER GEHEN.
»Blödsinn, absoluter Blödsinn. Man fühlt sich ganz bestimmt nicht besser. Man fühlt sich niemals wirklich besser. Warum sagen sie das nicht? Warum sagen sie nicht ehrlich, du bist vergewaltigt worden, Kleiner oder Kleine, und es tut uns wirklich leid, dass du jetzt von uns noch mal vergewaltigt wirst. Aber erzähl uns, wie es war, erzähl uns jede Kleinigkeit. Dann können wir es aufschreiben und dadurch wird es noch mal wahr.«
»Eve.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie meinen es ja gut. Wenigstens die meisten. Aber sie haben keine Ahnung, wie es
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