Tödliche Unschuld
sich vorstellen, wie das ist?«
»Ja.« Sie selbst war noch ein Kind gewesen, als sie mit gebrochenem Arm und traumatisiert im Krankenhaus gelegen und im Blick des Polizisten, der versucht hatte mit ihr zu sprechen, das gleiche resignierte Mitgefühl gesehen hatte wie jetzt in Dwiers Blick.
»Hatten Sie den Eindruck, dass die Eltern versuchen könnten, die Sache selber in die Hand zu nehmen und Fitzhugh für das büßen zu lassen, was er verbrochen hat?«
»Könnte man ihnen deshalb etwa einen Vorwurf machen?«
»Es geht hier weder um meine noch um Ihre persönlichen Gefühle, sondern einzig und allein um die Ermittlungen in einer Mordserie. Fitzhugh, George und andere wurden hingerichtet, und es ist mein Job herauszufinden, wer die Henker waren.«
»Ihren Job würde ich nicht haben wollen.« Er nahm das zweite Bier in Empfang. »Niemand, der gegen Fitzhugh oder George ermittelt hat, wird einem von den beiden auch nur eine Träne nachweinen. Das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich erwarte keine Tränen, sondern Informationen. Und ich bitte Sie als Kollegen, dass Sie sie mir geben.«
Er starrte grübelnd in sein Glas und trank schließlich einen Schluck. »Ich kann nicht behaupten, dass irgendeins der Opfer oder irgendein Verwandter sich anders verhalten hätte als zu erwarten war. Die meisten dieser Leute waren wie gelähmt. Die Kinder, die er vergewaltigt hatte, waren verschämt, verängstigt und hatten vor allem jede Menge Schuldgefühle, obwohl das, was passiert ist, ganz bestimmt nicht ihre Schuld gewesen ist.
Eine der Familien, die zu uns kam und Anzeige erstattet hat, ist daran regelrecht zerbrochen. Der Kleine hat wie Espenlaub gezittert, als er vor mir saß. Aber sie wollten, dass er die Sache durchzieht. Wollten, dass der Kerl hinter Gittern landet, damit er nicht noch einmal einem Kind so etwas antun kann.«
»Können Sie mir den Namen dieser Familie nennen?«
Als er sie ansah, war jedes Mitgefühl aus seinem Blick verschwunden. »Die Akten sind versiegelt. Das wissen Sie.«
»Das Jugendamt hat Einspruch gegen die Einsichtnahme eingelegt, aber ich habe es mit einer technisch hochgerüsteten Terrororganisation zu tun, die nach Belieben Menschen exekutiert. Es gibt Verbindungen zwischen den Opfern, und ich glaube, dass ihre eigenen Opfer eins dieser Bindeglieder sind.«
»Ich werde Ihnen keine Namen nennen. Und ich sage Ihnen rundheraus, dass ich hoffe, dass Ihnen die Einsicht in die Akten auch weiterhin verwehrt bleibt. Ich will nicht, dass diese Leute all das noch mal durchmachen müssen. Sie müssen Ihre Arbeit machen, und es heißt, Sie wären wirklich gut. Trotzdem kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Danke für das Bier.«
»Okay.« Sie stand auf, fummelte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch. »Kennen Sie eine gewisse Clarissa Price vom Jugendamt Manhattan?«
»Sicher.« Wieder tauchte Dwier seine Hand in die Schale mit den Brezeln. »Sie hat ein paar der Opfer in diesen Fällen vertreten. Falls Sie die Hoffnung hegen, dass sie Ihnen Namen nennen wird, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Sie gibt garantiert nicht klein bei.«
»Sie ist also ziemlich engagiert?«
»Und ob.«
»Engagiert genug, um sich über das Gesetz zu stellen, falls sie zu dem Ergebnis kommt, dass es ihren Kindern nicht zu ihrem Recht verhilft?«
Er sah sie ausdruckslos an. »Wenn ich mir ein Urteil anmaßen müsste, würde ich behaupten, dass sie sich an die Gesetze hält. Auch wenn sie in den Augen mancher vielleicht nicht genügen, sind es eben die Gesetze, an die wir gebunden sind. Zumindest so lange, bis es eventuell irgendwann mal andere, bessere Gesetze gibt. Darf ich Sie was fragen?«
»Sicher.«
»Ihr Leute vom Morddezernat seid anders als wir anderen. Das weiß jeder Polizist.
Aber stößt es Ihnen nicht trotzdem sauer auf, für solche Typen eintreten zu müssen, obwohl Sie wissen, dass sie der reinste Abschaum gewesen sind?«
»Ich suche mir die Toten, denen ich zu ihrem Recht verhelfen muss, nicht aus. So, und jetzt wünsche ich Ihnen morgen vor Gericht viel Glück.«
Damit verließ sie das O’Malley’s, setzte sich in ihren Wagen, fuhr jedoch nicht sofort los. Etwas stieß ihr sauer auf. Und zwar, dass ihr Instinkt ihr sagte, dass ein Mann, der sicher mal ein guter Cop gewesen war, entweder bereits eine Grenze überschritten hatte - oder im Begriff stand, es zu tun.
Falls Dwier nicht bereits ein Mitglied bei den Reinheitssuchern war, träte er ihnen bestimmt bei nächster
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