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Toedliche Worte

Toedliche Worte

Titel: Toedliche Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Instinkt für seine Opfer hatte, schien Tony einen sechsten Sinn für das Aufspüren seiner Beute zu haben. Trotz seiner vielen öffentlichen Erklärungen, es gehe um eine wissenschaftliche Methode, war ihm durchaus bewusst, dass er seine wichtigsten Einsichten direkt aus dem Quell der Intuition schöpfte. Er hatte Übung darin, diese Seite seiner Arbeit zu kaschieren. Carol war wahrscheinlich der einzige Mensch, der dies verstand und es ihm verzieh.
    Was konnte er also über den Entführer von Guy Lefevre und Tim Golding mit Sicherheit sagen? Geschlecht, Alter. Wahrscheinlich war er ein Einzelgänger, hatte oberflächliche Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, war aber nicht in der Lage, tiefere Beziehungen einzugehen. Er war auf dem Land zu Hause. Er hatte die Gegend so gut gekannt, dass er es ungefährlich fand, das Auto auf einem öffentlichen Parkplatz abzustellen und den Jungen eine Meile durchs Gelände bis zum Zielort zu transportieren. Er musste gewusst haben, dass morgens um diese Zeit wenig Leute unterwegs sein würden. Aber er fühlte sich auch in der Stadt wohl, da man annehmen musste, dass er Tim am helllichten Tag von der Straße weg entführt hatte.
    An diesem Punkt kamen Tonys Gedanken ins Stocken. Vermutungen waren keine Fakten. Es hatte keine Zeugen gegeben. Die Polizisten hatten Mühe zu glauben, dass es passiert sein konnte, ohne dass jemand etwas sah, obwohl es Präzedenzfälle für so etwas gab. Der bekannte Kindesentführer Robert Black hatte mindestens zwei seiner Opfer auf der Straße mitgenommen, ohne dass jemand etwas bemerkte. Aber wenn es nicht so gewesen war?
    Tony ging die Beweise noch einmal durch. Guy war auf der Suche nach Vogelnestern in den Wald gegangen. Er wurde nie wieder gesehen, obwohl man seine Karte, auf der die Nester eingetragen waren, in der Nähe des Kanals fand. Tim hatte seinen Freunden gesagt, er werde zum Bahndamm runtergehen, um die Güterzüge zu beobachten. Die Frauen an der Bushaltestelle meinten, sein gelbes Fußballhemd zwischen den Bäumen gesehen zu haben. Und wenn der Mörder nicht mit einem Fahrzeug auf den Straßen unterwegs gewesen wäre? Wenn er auf dem Bahndamm oder im Wald gewartet und eine Geschichte parat gehabt hätte, mit der er einen kleinen Jungen so beeindrucken konnte, dass er freiwillig mitkam? Vielleicht ein besonders seltenes Nest oder ein Detail an einem Zug? Interessanterweise bestanden von beiden Orten aus Verkehrsverbindungen zu den Bergen in Derbyshire, nur ein Dutzend Meilen oder so vom Swindale entfernt, allerdings waren es Verbindungen, die der Mörder nicht hätte nutzen können. Vom Kanal gab es einen Gleisanschluss zu einer direkten Bahnlinie in die Täler hinunter. Und genau diese Seitenlinie der Bahn führte zu einem Steinbruch am Rand des Peak Districts.
    Ganz fasziniert von dem Gedanken sprang Tony aus dem Bett, griff sich seinen Morgenmantel und eilte in sein Arbeitszimmer.
    Er wollte seine Ideen auf dem Bildschirm vor sich haben und konkretisieren, damit er sie Carol noch vor der morgendlichen Besprechung zeigen konnte. Beim Kaffee konnten sie alles besprechen, bevor sie zur Arbeit aufbrach.
    Während der Computer hochfuhr, lief er hinunter und machte Kaffee. Mit dem Becher in der Hand ging er wieder hinauf und trat ans Fenster, um zum Himmel hinaufzusehen, während er sich überlegte, wie er seine Erkenntnisse formulieren wollte.
    Aber es war nicht der Himmel, der seinen Blick wie ein Magnet anzog, sondern Jonathan Frances’ Motorrad, das einzige Detail, das nicht auf die Tony schon vertraute Straße passte. Es stand zwischen Carols Wagen und dem Kombi des Nachbarn und schien ihm seine Präsenz mit der Böswilligkeit eines Panzers in Bagdad aufzudrängen. Tony kam es vor, als wäre aller Atem aus ihm gewichen, als sei er hohl.
    Dann stiegen die Gefühle in ihm hoch, pur und schonungslos. Es war mehr als Eifersucht, es war ein stechender Schmerz, der ihn in seinen Klauen hatte. Es ist deine eigene Schuld. Weil du ihr nicht geben konntest, was sie brauchte. Weil du nur ein dürftiger Ersatz für einen richtigen Mann bist. Weil du sie in die Höhle des Löwen geführt hast und dann nicht retten konntest. Weil Liebe nur etwas wert ist, wenn den Worten auch Taten folgen.
    Tony schleuderte seinen Becher gegen die Tür, und der Kaffee bespritzte die frisch gestrichene Tapete und die Bücher daneben. Dann warf er sich auf den Stuhl und zog die Tastatur zu sich heran.

    Don Merrick rauchte schon die zweite Zigarette an

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