Toedliche Worte
zengleicher Gelassenheit. Tony warf noch einen Blick auf die Notizen, um sich an das am Vorabend Gelesene zu erinnern. Er schüttelte ärgerlich den Kopf über die Dummheit mancher seiner Arztkollegen. Dann schloss er die Mappe und ging zum Besprechungsraum.
Er fühlte, wie beschwingt seine Schritte waren, selbst auf diesem kurzen Weg. Bradfield Moor Secure Hospital war nach der Ansicht der meisten Leute nicht gerade mit Zufriedenheit verbunden, aber genau dies empfand Tony zum ersten Mal seit Monaten wieder. Er war wieder in seinem ureigenen Bereich, in der Welt gestörter Gemüter, dort, wo er hingehörte. Trotz seiner ständigen Anstrengungen, sich hinter verschiedenen Masken zu verstecken, die ihm halfen nicht aufzufallen, wusste Tony, dass er draußen in der Welt außerhalb der grimmigen Mauern von Bradfield Moor ein Außenseiter war. Es war ein Gefühl, das er nicht gern unter die Lupe nahm, denn da kamen Dinge heraus, bei denen ihm unbehaglich wurde. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass die Einfühlsamkeit seinem Leben einen Sinn verlieh. Nichts kam dem Moment gleich, in dem er sah, wie die Rädchen im Gehirn eines anderen Menschen ineinander griffen und ihm erlaubten, die verdrehte Logik einer anderen Psyche zu begreifen. Wirklich und wahrhaftig gab es nichts, was dem glich.
Er schob die Tür zum Besprechungszimmer auf und setzte sich seiner neuesten Herausforderung gegenüber. Tom Storey verharrte regungslos und folgte Tony nur mit dem Blick. Auf seiner rechten Hand ruhte ein dick verbundener Stumpf, der bis vor einigen Tagen seine linke Hand gewesen war. Tony beugte sich mit dem Ausdruck von Anteilnahme auf seinem Gesicht nach vorn. »Ich bin Tony Hill. Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
Storeys Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann stieß er ein kurzes sarkastisches Lachen aus. »Meine Hand oder meine Kinder?«, sagte er bitter.
»Ihr Sohn und Ihre Tochter«, sagte Tony. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das mit der Hand dagegen wie ein Segen vorkommt.«
Storey schwieg.
»Das Syndrom der fremden Hand«, sagte Tony. »Es wurde zum ersten Mal 1908 beschrieben. Ein wahres Geschenk für die Drehbuchschreiber von Horrorfilmen. 1924 Orlacs Hände – Conrad Veidt spielte einen Pianisten, dem die Hand eines Mörders angenäht wurde, nachdem er seine eigene bei einem Zugunglück verloren hatte. 1946 Die Bestie mit den fünf Fingern, wieder ein Pianist. 1987 Tanz der Teufel II – der Held greift zur Kettensäge, damit seine besessene Hand ihn nicht mehr angreifen kann. Billige Horrorgeschichten ohne Ende. Aber es ist nicht so unterhaltend, wenn man selbst derjenige mit der Hand ist, oder? Wenn man nämlich zu erklären versucht, was für ein Gefühl das ist, nimmt einen keiner ernst. Niemand hat Sie ernst genommen, nicht wahr, Tom?«
Storey rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, schwieg aber weiter und schien gefasst.
»Ihr Hausarzt hat Ihnen Beruhigungstabletten verschrieben. Stress, sagte er, nicht wahr?«
Storey neigte leicht den Kopf.
Tony lächelte aufmunternd. »Aber sie haben nicht gewirkt, was? Haben Sie nur müde und verwirrt gemacht. Und mit so einer Hand wie der Ihrigen mussten Sie ja immer wachsam sein. Denn man konnte ja nie wissen, was noch geschehen würde. Wie war es, Tom? Sind Sie in der Nacht aufgewacht und haben nach Luft geschnappt, weil sich die Hand um Ihren Hals gelegt hatte? Hat sie über Ihrem Kopf Teller zerschlagen? Sie davon abgehalten, Essen zum Mund zu führen?« Tony brachte die Fragen mit sanfter, einfühlsamer Stimme hervor.
Storey räusperte sich. »Ich habe mit Dingen um mich geworfen. Wir saßen zum Beispiel alle beim Frühstück, da packte ich plötzlich die Teekanne und warf sie nach meiner Frau. Oder wir waren im Garten, und plötzlich nahm ich Steinbrocken aus dem Steingarten und warf sie nach den Kindern.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, offenbar vom Sprechen erschöpft.
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie das erschreckt haben muss. Wie hat Ihre Frau reagiert?«
Storey schloss die Augen. »Sie wollte mich verlassen. Wollte die Kinder mitnehmen und nie mehr wiederkommen.«
»Und Sie lieben ja Ihre Kinder. Das ist eine schreckliche Lage für Sie. Sie haben nichts, mit dem Sie dagegen angehen können. Ein Leben ohne Ihre Kinder ist nicht lebenswert. Aber das Leben mit Ihren Kindern bringt sie ständig in Gefahr, weil Sie die Hand nicht davon abhalten können, das zu tun, was sie will. Es gibt keine leichte Antwort darauf.« Tony hielt inne,
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