Toedliche Wut
Namen?«
Sie hört auf zu pflücken und sieht mich an. In ihren Augen sehe ich Kummer und Verwirrung und das furchtbare Gewicht einer Angst, die sie nicht begreift – und über allem die Hoffnung, dass es ihrer Freundin gutgeht. »Sie hat mich gebeten, es niemandem zu erzählen.«
»Wir glauben, dass Annie in Gefahr sein könnte.« Ich warte, doch als sie nichts sagt, wiederhole ich meine Worte von vorher: »Amy, du bekommst keine Schwierigkeiten, okay? Wir wollen sie nur finden. Wenn du etwas weißt, sag es mir bitte.«
Sie zieht die Augenbrauen zusammen, und zum ersten Mal wird mir das ganze Ausmaß ihres Gewissenskonflikts bewusst: das Bedürfnis, loyal gegenüber ihrer Freundin zu sein; das Gebot, sich mit mir, einer Englischen, nicht einzulassen; das Verlangen, zu erzählen, was sie weiß, denn Annie könnte in Gefahr sein. »Er heißt Justin Treece«, sagt sie schließlich.
»Ich danke dir, Amy.« Ich hole den Notizblock hervor und schreibe den Namen auf. »Gibt es sonst noch etwas, das uns helfen könnte, sie zu finden?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Annie hat ein Telefon«, platzt es aus ihr heraus. »Ich hab sie damit telefonieren sehen.«
»Ein Mobiltelefon?«
Sie nickt. »Ich habe Angst um sie.«
»Warum?«
»Ist einfach so.«
Ich strecke die Hand aus, um sie zu berühren, zu beschwichtigen, und ihr für die Hilfe zu danken. Doch sie greift blitzschnell nach ihrer Umhängetasche und läuft so dicht an den Büschen entlang, dass ihr Kleid an den Dornen hängen bleibt. Ohne zurückzublicken, rennt sie nach Hause.
Ich sehe ihr nach, bis sie seitlich am Haus verschwindet, dann steige ich zu Tomasetti in den Wagen und berichte ihm, was ich herausgefunden habe. »Warum erfahren die Eltern immer alles zuletzt?«, brummt er.
»Weil sie vermutlich nicht genug Fragen stellen.«
»Oder weil manche Teenager krankhafte Lügner sind?«
»Das ist echt zynisch.« Ich gebe einen Zischlaut von mir. »Du könntest versuchen, ein bisschen mehr Vertrauen in unsere Jugend zu haben.«
»Könnte ich, wenn da nicht dieses lästige kleine Detail namens Realität wäre.« Er hat bereits Goddards Nummer gewählt und hält das Telefon ans Ohr. »Wir haben einen Namen«, sagt er ohne Vorrede. »Justin Treece.« Ein Schatten huscht über Tomasettis Gesicht, hinterlässt eine finstere Miene. »Mist. Gibt es eine Adresse?« Er lauscht einen Moment und legt dann auf.
»Das klingt nicht gut«, sage ich.
Tomasetti legt das Telefon in die Konsole und startet den Wagen. »Treece hat ein Jahr in Mansfield gesessen, weil er seine Mutter krankenhausreif geschlagen hat.«
6.
Kapitel
Justin Treece wohnt bei seinen Eltern in einem heruntergekommenen Fachwerkhaus am Stadtrand von Buck Creek. Das ganze Viertel ist verwahrlost, die briefmarkengroßen Häuser haben marode Veranden und verwilderte Vorgärten, einige stehen auch leer, sind den Elementen preisgegeben oder haben mit Brettern vernagelte Fenster. Im Dach des Nachbarhauses der Treeces prangt ein wagenradgroßes Brandloch, das den Blick auf verkohlte Dachsparren und rosa Isolierwolle frei gibt.
»O Mann, hier sieht’s aus wie in Cleveland«, sagt Tomasetti, als wir langsam daran vorbeifahren.
»Willkommen im Armeleuteviertel«, sage ich leise.
In der Auffahrt der Treeces steht ein verbeulter Toyota-Pick-up mit übergroßen Rädern, daneben ein alter Ford Thunderbird. »Sieht aus, als wäre jemand zu Hause.«
Goddard parkt seinen Streifenwagen zwei Häuser weiter am Straßenrand. Wir stellen uns hinter ihn, steigen aus und gehen zu ihm auf den Bürgersteig, wo er wartet.
»Die Fahrzeuge gehören den Eltern«, erklärt der Sheriff. »Trina fährt den Thunderbird, Jack den Toyota.«
»Und der Junge?«, fragt Tomasetti.
»Als ich ihn das letzte Mal angehalten habe, hatte er einen betagten Plymouth Duster. Er und sein alter Herr basteln an Autos rum, kann sein, dass der hinten in der Garage steht.«
»Wie übel ist der Junge eigentlich?«, frage ich.
»Bis jetzt wurde er nur das eine Mal verurteilt.« Goddard schüttelt den Kopf. »Aber er ist ein echtes Früchtchen. Um ehrlich zu sein, ich glaube, der macht Karriere, in zehn Jahren spielt er ganz oben mit.«
»Oder er sitzt im Gefängnis«, meint Tomasetti.
Goddard zeigt aufs Haus. »Die ganze Bagage ist Stammkunde auf dem Revier. Meistens wegen häuslicher Gewalt – die Eltern lassen sich volllaufen und prügeln sich dann gegenseitig windelweich. Die Kinder verwahrlosen. Echt traurig das Ganze.«
Da
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