Toedliche Wut
Tieren im Wasser ausgeliefert, in deren Reich sie eingedrungen ist, setzt mir zu.
Abrupt wendet Tomasetti den Lichtstrahl von der Leiche ab, knipst die Taschenlampe aus und geht hinauf zum nächsten Baum, stützt sich mit einer Hand daran ab und schließt die Augen. Auch wenn er schon oft im Leben mit Gewalt konfrontiert wurde, ist er genauso entsetzt und abgestoßen wie ich.
Kurz darauf streicht er sich mit der anderen Hand über die Wange und stößt sich vom Baum ab. »Die Spurensicherung muss schnell kommen, bevor der Regen auch noch den letzten Rest zunichtemacht, was sich eventuell verwerten lässt.« Er knipst die Taschenlampe wieder an und leuchtet über den mit Wurzeln durchzogenen Uferabschnitt. »Vielleicht finden sie ja Schuhabdrücke.«
Doch er holt sein Telefon nicht hervor, sondern dreht sich um und bleibt reglos stehen, den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet. Obwohl er mir den Rücken zugewandt hat und ich sein Gesicht nicht sehen kann, spüre ich, dass er keine Fragen hören will.
Ich lasse ihm etwas Zeit, dann sage ich. »Soll ich die Spurensicherung anrufen?«
Langsam dreht er sich zu mir um. Im schwachen Licht der auf den Boden gerichteten Taschenlampe sehe ich Falten in seinem Gesicht, die ich noch nicht kenne; der Ausdruck in seinen Augen ist mir allerdings bekannt, denn in meinen ist der gleiche zu sehen.
»Ich mach das schon.« Er sieht weg. »Ich bin okay.«
»Versteh mich nicht falsch, aber du siehst nicht so aus.«
Er sieht mir in die Augen. »Vor fünf Jahren hätte mich so ein Anblick wütend gemacht, und das wär meine einzige Gefühlsregung gewesen. Für das tote Mädchen oder ihre Familie hätte ich nichts empfunden, ich war nur daran interessiert, den Scheißkerl zu kriegen, der das gemacht hat. Und wenn er dabei draufgegangen ist, war das wie ein zusätzlicher Bonus.«
»Dafür musst du dich nicht noch selber fertigmachen, das ist nur allzu menschlich«, sage ich.
»Genau das ist das Problem, Kate. Es war nicht menschlich. Ich war weder geschockt noch traurig oder zerknirscht, weil ein Mädchen tot war. Manchmal hab ich nicht einmal Wut empfunden. Es war ein Spiel. Ich hatte bloß das fast manische Bedürfnis, den Scheißkerl dranzukriegen. Nicht um irgendeiner edlen Gerechtigkeit willen, sondern weil ich wusste, dass ich besser bin als er, und es beweisen wollte.«
»Diesen Schutzmechanismus haben wir alle.«
»Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, gesagt zu bekommen, dass deine Liebsten alle tot sind.«
Ich gehe zu ihm, und noch bevor es mir klar wird, lege ich die Hand auf seine Wange. »Es tut mir leid.«
Er nimmt sie, führt sie sanft über seinen Mund und vom Gesicht weg. »Also gut, kriegen wir den Dreckskerl eben dran«, sagt er, und wir gehen den Pfad zurück.
* * *
Eine Stunde später wimmelt es auf der Landstraße von Deputys des Sheriffs, State Highway Patrol Officers und Rettungssanitätern. Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge und Krankenwagen flackern über die Bäume. Das Gebiet ist weitläufig mit gelbem Absperrband gesichert, und die Brücke ist mit Straßensperren abgeriegelt. Zwei Krankenwagen stehen außerhalb des abgesperrten Gebietes, ihre Dieselmotoren rattern in der Stille der Morgendämmerung.
Regen klatscht auf die drei Mitarbeiter des Coroners von Trumbull County nieder, die mit viel Mühe den Leichnam durch den Straßengraben nach oben tragen. Goddards Deputy hatte uns County-eigene Regenklamotten gegeben, doch wir sind bereits total nass, und obwohl es um die fünfzehn Grad ist, spüre ich die Kälte bis auf die Knochen.
Ich stehe hinter dem Krankenwagen, als die drei Männer die Tote auf der Rollbahre bringen, und kann die Silhouette ihres Körpers in dem schwarzen Leichensack erkennen.
»Hatte sie einen Ausweis oder so was dabei?«, fragt Tomasetti.
»Nein, nichts«, erwidert ein etwa dreißig Jahre alter Kriminaltechniker mit Spitzbart und Nickelbrille. »Wir haben uns am Tatort so vorsichtig wie möglich bewegt, aber das Ufer ist trotzdem ziemlich zertrampelt.«
»Todesursache?«, fragt Tomasetti.
»Keine sichtbaren Verletzungen.« Der Mann verzieht das Gesicht. »Bei Wasser ist das ansonsten schwer zu sagen, wir müssen die Autopsie abwarten.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragt Tomasetti.
»Wir sind mit der Arbeit zur Zeit auf dem Laufenden, also vielleicht morgen früh.«
Tomasetti reicht ihm seine Karte. »Geben Sie uns Bescheid, ja?«
»Mach ich«, sagt er, dann laden sie die Leiche in den Krankenwagen und fahren
Weitere Kostenlose Bücher