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Toedliche Wut

Toedliche Wut

Titel: Toedliche Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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ich wieder das Wort. »Sie hatte keine Papiere bei sich. Wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen und uns zu sagen, ob es Annie ist.«
    King sieht mich an, als hätte ich ihm gerade ein Messer in den Bauch gestoßen. Sein Mund steht offen, seine Lippen zittern. »Es ist nicht Annie. Es kann nicht Annie sein.«
    Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tomasetti den Blick abwendet, und frage mich, ob er gerade den Moment wiedererlebt, als ihm der Tod seiner Frau und seiner beiden Töchter mitgeteilt wurde.
    Der Bischof umfasst den Arm des jüngeren Mannes. »Vertraue auf Gott, Levi, es liegt in seiner Hand.«
    Die Fliegentür schlägt zu. Edna King steht im schlichten Kleid und mit Kapp auf der Veranda, ein fadenscheiniges Geschirrtuch in beiden Händen. Sie kann unmöglich gehört haben, was gesprochen wurde, doch sie weiß, dass es Annie betrifft. Und dass es nichts Gutes ist.
    Das Geschirrtuch flattert zu Boden, und sie kommt zu uns gelaufen. »Geht es um Annie?«, fragt sie. »Ist etwas passiert?«
    Levi hat sich wieder gefasst. Er wendet sich mit beherrschter, ruhiger Stimme seiner Frau zu. »Ein Mädchen wurde gefunden«, teilt er ihr mit. »Vielleicht ist es ja nicht Annie.«
    »Ein Mädchen?« Sie hält sich die Hände vor den Mund. »Lebt es?«
    Ihr Mann umfasst kopfschüttelnd ihre Schultern. »Annie ist in Gottes Händen«, sagt er aus voller Überzeugung.
    »Edna, das ist ein großer Trost«, fügt der Bischof hinzu.
    Ich sehe den Kampf, der in ihr wütet, zwischen dem unbedingten Glauben und der entsetzlichen Angst, dass ihrer Tochter etwas Furchtbares passiert sein könnte. »Es kann nicht Annie sein«, flüstert sie. »Nicht Annie.«
    Tomasetti gibt mir ein Zeichen, ich sehe den Bischof an, und wir machen uns langsam auf zum Wagen.
    »Ich muss mit ihnen gehen«, höre ich Levi sagen. »Sei stark, Edna. Mach den Kindern das Frühstück, ich bin zurück, bevor du das Geschirr gespült hast.«
    »Levi …«
    Sie weint leise, doch der amische Mann wendet sich ab und folgt uns mit versteinertem Gesicht.
    Seine Frau sinkt auf die Knie, hält sich mit beiden Händen an Grasbüscheln fest und ruft weinend den Namen ihrer Tochter.
    * * *
    Die Fahrt zum Trumbull Memorial Hospital dauert nur fünfundzwanzig Minuten, aber sie kommen mir vor wie Stunden. Angst erfüllt die Luft. Bischof Hertzler und Levi King sitzen hinten, reden leise miteinander oder beten lautlos. Meistens sprechen sie von Annie – ihrer Jugend, ihrer Güte, ihrer Liebe zu Gott und der Familie, der Möglichkeit, dass sie nicht die Tote ist und eine andere Familie ihre Gebete brauchen wird. Immer wieder äußert Levi diese Hoffnung, klammert sich daran wie ein Mann, der verzweifelt sein eigenes Leben zu retten versucht – und in gewisser Weise ist es auch so.
    Als wir schließlich ins Parkhaus gegenüber dem Krankenhaus fahren, verfallen die Männer wieder in Schweigen. Wortlos gehen wir über die Verbindungsbrücke zwischen Krankenhaus und Parkhaus, wobei die beiden amischen Männer einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich kann nach wie vor schwer glauben, dass es noch immer Menschen gibt, die in Ohio leben und noch nie einen Amischen gesehen haben. Und doch ist es wahr. Im Krankenhaus nehmen wir den Fahrstuhl zum Keller, wo sich das Leichenschauhaus befindet.
    Die Fahrstuhltüren öffnen sich zu einem Empfangsbereich mit hellgelben Wänden, blauem Sofa und Sessel und mehreren Zimmerpalmen. Auf dem Couchtisch steht eine Vase mit Pfingstrosen aus Seide, und an der Wand hängt ein Flachbildfernseher, in dem der Fox News Channel läuft – hier hat sich offensichtlich jemand ein bisschen zu sehr bemüht, einem traurigen Ort einen alltäglichen Anstrich zu geben.
    Eine Frau mittleren Alters – im dunkelrosa Kostüm und mit einem Headset auf dem Kopf – sitzt hinter einem glänzenden Eichenschreibtisch und begrüßt uns mit einem angemessen ernsten Gesichtsausdruck. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Tomasetti tritt zu ihr hin und zeigt seinen Ausweis. »Wir sind zur Identifizierung einer Toten hier.«
    »Sie werden schon erwartet, es ist alles bereit.« Sie reicht ihm ein Klemmbrett, wobei ihr Blick zu den beiden amischen Männern wandert. »Einfach unten unterschreiben.«
    Tomasetti kritzelt seine unleserliche Unterschrift auf das Formular und gibt es ihr zurück. Sie tritt hinter dem Schreibtisch hervor. »Hier entlang bitte.«
    Tomasetti und ich gehen hinter ihr her, die beiden Männer folgen uns mit etwas Abstand. Wir umrunden eine Ecke, kommen zu

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