Toedliche Wut
vor dem Abbruch des Flussufers stehen. Tote sind niemals ein schöner Anblick, aber Wasserleichen sind wirklich grausig. Ich stelle mich neben ihn.
Im Licht seiner Taschenlampe erscheint die glänzende Oberfläche des schlammigen Ufers, schwammiges Moos auf Flusssteinen und spilleriges schwarzes Wurzelwerk. Mein Blick bleibt an dem hauchdünnen Stofffetzen hängen, der sich in der Strömung auf und ab bewegt wie die durchscheinende Flosse eines exotischen Fisches. Ich erkenne einen wächsernen Oberschenkel, ein angewinkeltes Knie, das weiße Fleisch einer weiblichen Wade. Der Fuß wird von den düsteren Tiefen des Wassers verschluckt. Sie ist angezogen, vielleicht mit einem Kleid, doch es ist bis zur Hüfte hochgerutscht und man sieht einen schlichten Baumwollschlüpfer – wie ihn junge amische Frauen für gewöhnlich tragen.
Sie liegt rücklings im Wasser, ein Arm klemmt verdreht in den Wurzeln fest. Ich starre auf das fahle Gesicht mit dem Mund, der wie zum Schrei geöffnet ist, er ist voll mit Wasser und Blättern. Ihre Unterlippe ist gespalten, die Augen sind offen, die Iris darin farblos und trüb.
»Verdammte Scheiße«, sagt Tomasetti.
Der Anblick der Leiche, das wellenförmige Auf und Ab ihres langen Haares in der Strömung, hat etwas Surreales. Tomasetti und ich stehen einfach nur da. Der Regen ist stärker geworden, doch das nehme ich kaum wahr, spüre weder Nässe noch Kälte. Ich sehe wie gebannt auf das tote Mädchen, das so jung und so entsetzlich sterben musste.
Ich zwinge mich zurück ins Hier und Jetzt, frage leise: »Was glaubst du, wie lange liegt sie schon hier?«
»Die Leiche scheint intakt, jedenfalls kann ich keine Anzeichen von Verfall erkennen.«
Ich warte auf weitere Ausführungen, doch vergeblich. »Keine sichtbaren Wunden«, füge ich hinzu, in Gedanken an das Blut, das wir am Nachmittag auf der Straße gefunden haben.
»Sie hat noch die Unterwäsche an.«
Das muss ein Sexualdelikt nicht ausschließen, denn manche Täter kleiden ihre Opfer wieder an. »Kein Make-up oder Schmuck, keine lackierten Fingernägel. Tomasetti, das Kleid hat ein typisch amisches Muster.«
»Verdammt.«
Ich blicke stromaufwärts, Richtung Brücke, doch es ist zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. »Glaubst du, jemand hat sie hier an der Stelle reingeworfen? Oder eher von der Brücke aus?«
Er leuchtet mit der Taschenlampe über den Boden, wo mehrere Schuhabdrücke sichtbar werden, unsere und ein Wabenmuster, das von Foster stammen könnte. Aber nirgends abgebrochene Zweige, kein plattgetretenes Gras, kein Blut. »Auf den ersten Blick keine Anzeichen eines Kampfes«, knurrt er. »Wir müssen Abdrücke von Fosters Stiefelsohlen nehmen.«
Er leuchtet weiter über den steilen Uferrand, dann zur Wasseroberfläche. Der Fluss ist knapp acht Meter breit. Er sieht tief aus, aber ein paar Meter flussabwärts scheint eine seichte Stelle zu sein, wenn ich das Plätschern richtig deute. »Er könnte sie weiter oben reingeworfen haben, und die Strömung hat sie hergeschwemmt.«
»Oder er hat auf der Brücke haltgemacht und sie runter geworfen«, sage ich.
»Mist.« Er nimmt sein Telefon, ruft Goddard an und bittet ihn, die Brücke absperren zu lassen. »Ich glaube kaum, dass Reifenspuren was bringen, falls es überhaupt welche gibt«, sagt er und klappt das Handy zu.
»Vielleicht haben wir ja Glück.«
Aber das glauben wir beide nicht. Es ist extrem schwer, in einem so großen, allgemein zugänglichen und stark frequentierten Gebiet aussagekräftige Beweismittel zu finden. Auf die es auch noch geregnet hat.
Einige Minuten stehen wir da und leuchten die Umgebung des Fundorts ab, um eine Vorstellung zu bekommen, wie es hier aussieht. Ich wünschte, ich hätte die Kamera dabei, aber die müssen wir erst aus dem Wagen holen. Deshalb präge ich mir erst einmal so viele Details wie möglich ein – Ort und Position der Toten, Neigung des Baumes, Ufererosion und das Ausmaß des Wurzelwerks am Wasserrand, die Kleidung des Opfers. Aber ich weiß jetzt schon, dass es ihr Gesicht ist, das mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wird. Ich sehe auf die Uhr.
»Wir müssen zurück und den Fotoapparat holen. Und wir brauchen einen Generator und Scheinwerfer«, sagt Tomasetti.
»Es fällt mir schwer, sie so zurückzulassen.« Ich weiß, es ist ein dummer Kommentar, denn wir dürfen die Leiche nicht bewegen, bevor alles dokumentiert ist. Doch die Vorstellung, sie hier im trüben, kalten Wasser liegen zu lassen, ihr Körper den
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