Toedliche Wut
den Orten, wo die anderen Teenager verschwunden sind«, sagt Rasmussen.
»Vielleicht hat er seinen Aktionsradius erweitert«, meint Glock.
»Haben Sadies Eltern irgendwelche Probleme mit ihr erwähnt?«, frage ich. »Hat es vielleicht kürzlich Streit gegeben oder eine Meinungsverschiedenheit, etwas in der Art?«
Rasmussen schüttelt den Kopf. »Sie sagen, alles wäre in Ordnung gewesen.«
»Hatte sie einen festen Freund?«, frage ich.
»Sie sagen nein.«
Die Eltern erfahren es immer zuletzt . Tomasettis Worte gehen mir durch den Kopf, und ich gebe es nur ungern zu, aber er hat recht.
»Die Eltern haben wahrscheinlich keine Ahnung«, sage ich, und die beiden Männer sehen mich an, als wäre ich die sprichwörtliche Expertin auf dem Gebiet unkontrollierbarer Amisch-Mädchen.
»Sadie hat mit dem Gedanken gespielt, das Leben hier aufzugeben und wegzugehen«, erkläre ich. »Möglicherweise ist sie mit einem Jungen zusammen, von dem die Eltern nichts wissen. Oder sie ist weggelaufen, um uns Idioten hier eine Lektion zu erteilen.«
»Wir müssen mit ihren Freunden reden«, sagt Rasmussen.
»Ich weiß einige Namen, mit denen wir anfangen können.« Ich sehe Glock an. »Sorgen Sie dafür, dass Angi McClanahan, Matt Butler und Lori Westfall umgehend aufs Revier kommen, inklusive Eltern. Sie sind nicht in Schwierigkeiten, aber ich will mit ihnen reden.«
»Bin schon unterwegs.« Glock geht zur Tür.
Rasmussen und ich stehen einen Moment schweigend da, denken nach. »Ich werde mit der Mutter reden«, sage ich schließlich. »Und mir Sadies Zimmer ansehen.«
»Wollen Sie mich dabeihaben?«
»Ist vielleicht besser, wenn ich das alleine mache.«
»Verstehe.«
Als ich zurück in die Küche komme, sitzen Roy und Esther zusammengesunken am Tisch, ihre Hände machen fahrige, nutzlose Bewegungen. Sie sehen auf, dunkle Schatten um die Augen. Es ist erst ein paar Tage her, dass ich sie zuletzt gesehen habe, doch sie scheinen um Jahre gealtert. Roy ist ein großer, dünner Mann mit langem roten Bart, der ihm zum Bauch reicht. Er trägt schwarze Arbeitshosen mit Hosenträgern und ein blaues Hemd.
»Ich würde mir gern Sadies Zimmer ansehen«, sage ich.
Einen Moment lang starren sie mich an, als würde ich in einer Sprache sprechen, die sie nicht verstehen. Dann blickt Esther zu ihrem Mann. »Wir könnten es ihr zeigen«, sagt sie.
Ich werde langsam ungeduldig. Die Amischen sind eine patriarchale Gesellschaft. Die Männer bestimmen die Regeln und haben gewöhnlich das letzte Wort. Zwar dürfen die meisten Frauen ihre Meinung äußern, die auch grundsätzlich respektiert wird, doch im Allgemeinen ordnen sie sich den Wünschen ihrer Männer unter.
Ich wende mich an Roy. »Es ist wichtig«, sage ich ihm. »Vielleicht ist da etwas, das uns beim Suchen hilft.«
Kurz darauf nickt er. »Zeig ihr das Zimmer.«
Esther geht zur Tür. »Komm mit.«
Ich folge ihr über hohe, schmale und knarrende Treppenstufen in den ersten Stock. Sadies Zimmer liegt am Ende des Flurs, es ist klein und mit einem Bett, Nachttisch, einer Kiefernkommode mit drei Schubladen möbliert. An der Wand neben dem Bett hängen eine weiße Kapp und ein schwarzer Sweater an einem Holzhaken. Ein Fenster mit durchsichtigen Gardinen geht auf den vorderen Hof.
Das Zimmer ist gemütlich und ordentlich und könnte jedem amischen Mädchen gehören, wenn da nicht die vielen Handarbeiten wären: Ein grünweißer Quilt aus unterschiedlichen, interessant kombinierten Stoffen bedeckt das Bett, an dessen Kopfende eine Häkeldecke liegt und Kissen aufgereiht sind, der Stoffbezug mit Spitze überzogen. Die Wände sind wie üblich weiß, doch die vielen, vom Boden bis zur Decke reichenden Wandbehänge sind mehr als ungewöhnlich: Dunkelvioletter Samt mit Streifen von rosa Spitze durchwirkt, rote und lila Stoffe, kreativ zusammengestellt und kunstvoll vernäht – alles Farben, die die Amischen missbilligen. Und doch erlauben die Eltern ihr diesen Ausdruck von Individualität.
»Sadie näht für ihr Leben gern.« Esther sagt es auf eine Weise, als müssten die Handarbeiten ihrer Tochter gerechtfertigt werden. »Und das schon, seit sie sechs ist.«
Ich bin fasziniert von den vielen Metern Stoff, die von einem jungen amischen Mädchen mit so viel Gestaltungskraft und so großer Leidenschaft verarbeitet wurden, dass ihre Eltern sie weder davon abhalten noch zügeln konnten. Bei dem Anblick fällt mir das Gespräch mit Sadie auf der Brücke ein. Mir gefallen all die Dinge,
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