Toedliche Wut
hören, dass er da sein wird – nicht nur, was den Fall betrifft, auch für mich persönlich.
Ich hänge mir den Gurt über die Schulter. »Ich rufe an, wenn ich etwas weiß.«
Dann eile ich zur Tür hinaus schnurstracks zum Wagen.
* * *
Es gibt tausend Gründe, warum Polizisten niemals an einem Fall arbeiten sollten, zu dem sie – über Freunde oder Verwandte – eine persönliche Verbindung haben. Jeder altgediente Kollege wird sagen, dass ein Polizist mit privaten Motiven die Sache schneller vermasselt als jeder Anfänger. Wenn viel auf dem Spiel steht – wenn jemand, der einem wichtig ist, in Gefahr ist –, ändert das alles.
Ich würde nur allzu gern glauben, dass ich das trotzdem hinkriege, dass ich stark genug bin, herrschende Meinung hin oder her. Doch ich spüre bereits die emotionale Verstrickung, die sich wie eine Bestie in meinen Rücken gekrallt hat und mich in Bereiche lenkt, in denen ich nichts zu suchen habe. Ich bin von Anfang an im Nachteil, anfällig für übereilte Entscheidungen und bereit, Risiken einzugehen, die ich normalerweise nicht eingehen würde. Es wäre klüger, den Fall jemand anderem zu übertragen, nur ist da niemand.
Ich brauche knapp zwei Stunden bis Painters Mill, dank Blaulicht und Martinshorn und einer Geschwindigkeit von neunzig – statt der erlaubten fünfundfünfzig – Meilen auf dem Highway. Trotzdem sind mir die zwei Stunden wie Tage vorgekommen, und die ganze Zeit gingen mir schreckliche Gedanken durch den Kopf. Es steht nicht fest, dass Sadie Miller entführt wurde, denn es ist genauso gut möglich, dass sie ihre Ankündigung wahr gemacht und dem amischen Leben den Rücken gekehrt hat, um ihr Glück anderswo zu suchen. Aber wie schnell landet ein Ausreißer oder eine Ausreißerin als vermisste Person in den Polizeiakten.
Oder als Mordopfer.
Am frühen Abend parke ich schließlich den Wagen im langen Schatten des Hauses der Millers, ein deutliches Zeichen, dass der Tag sich dem Ende zuneigt. Bischof Troyers Buggy steht bei der Scheune – neben einem weiteren, dessen Besitzer ich aber nicht kenne –, der alte Amerikanische Traber ist an einen Pfahl nahe des Eingangs angebunden. Glocks Streifenwagen steht ein paar Meter weiter, und ein Ford Crown Victoria vom Sheriffbüro schräg dahinter.
Ich kenne die Millers seit Kindertagen. Sie sind eine konservative amische Familie, und sie haben mehr als einmal meine Entscheidungen oder mein Handeln missbilligt und Auseinandersetzungen provoziert, denen ich aber nie aus dem Weg gegangen bin. Ich setzte mich über sie und ihre Regeln hinweg, und es war mir vollkommen egal, ob ich in ihren Augen der letzte Dreck war.
Heute, als Erwachsene, weiß ich, dass sie meinen Weg niemals gutheißen werden. Aber hier geht es nicht um mich oder eine lange zurückliegende Zeit. Ich hoffe nur, dass ihre Geringschätzung mir gegenüber nicht die Kooperation beeinträchtigt, die ich und meine Kollegen bei der Suche nach Sadie brauchen.
Als ich aussteige, sind meine Beine von der Fahrt ganz steif. Ich laufe trotzdem zur hinteren Veranda, hoffe im Stillen, dass Sadie wieder aufgetaucht ist und ich die Fahrt umsonst gemacht habe – dass ich sie ordentlich ausschimpfen und dann in die Arme nehmen und ihr sagen kann, wie froh ich bin, sie zu sehen. Doch als die Tür aufgeht und Sarah und ihre Schwägerin herauskommen, sind alle meine Hoffnungen schlagartig dahin. Ihre Gesichter sind vom Weinen ganz fleckig, und in ihren Augen steht die nackte Angst.
Ein Blick auf meine Schwester genügt, und die Wut von zuvor ist verraucht.
»O Katie …« Ihre Stimme versagt.
Ich gehe zu ihr hin und umarme sie, wobei ich gegen meine Verlegenheit ankämpfe. Sie duftet nach frischer Wäsche und Sommer, so wie meine Mamm immer gerochen hat, und für den Bruchteil einer Sekunde sehne ich mich nach all den Umarmungen, die mir nie zuteilgeworden sind. Meine Schwester zittert am ganzen Leib. »Gibt es Neuigkeiten?«, frage ich und löse mich aus der Umarmung.
Sie schüttelt den Kopf. »Nein.«
Ich wende mich Sadies Mutter zu. Esther Miller ist eine füllige Frau mit rundem Gesicht, Sommersprossen und einem münzgroßen Feuermal auf der linken Nasenseite. Ihr braunes Haar ist mit Silberfäden durchzogen und zu einem strengen Nackenknoten gebunden. In unserer Jugend war sie witzig, eigensinnig und aufmüpfig gewesen, was mir immer sehr imponiert hat. Wir haben viele Nachmittage am Miller’s Pond verbracht, geraucht und über Dinge gesprochen,
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