Toedliche Wut
der Landkarte und Tafel. Als ich neben ihn trete, sieht er mich an. »Du warst fleißig«, sagt er.
»Konnte nicht schlafen.«
Er blickt wieder zu der Weißwandtafel. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es jemand, den wir noch gar nicht kennen.«
Wir stehen schweigend nebeneinander, beide den Blick auf die Tafel geheftet. »Ich glaube, wir übersehen da was«, sagt er schließlich.
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich noch nicht.« Er liest laut vor, was ich auf die Tafel geschrieben habe. »Kennen wir das Motiv, finden wir den Täter.« Er dreht sich zu mir um. »Wobei die alles beherrschende Frage ist: Warum Amische?«
»Nicht einfach Amische«, erinnere ich ihn. »Junge Amische, die über ein Leben außerhalb der Glaubensgemeinschaft nachdenken.«
Er nickt. »Wer würde sich dadurch angegriffen fühlen? Ich meine, so sehr, dass er zu solch extremen Maßnahmen greift?«
»Jemand, der absolut gottesfürchtig ist«, kommt es spontan aus mir heraus. »Jemand, der nicht mit ansehen kann, wie diese Jugendlichen leben – der glaubt, dass sie bestraft werden müssen.« Ich sehe Tomasetti an. »Frank Gilfillan und seine Kirche der zwölf Wege.«
»Will er sie bestrafen? Rekrutieren? Oder erlösen?«
»Vielleicht alles zusammen.«
»Die Verwirrung dieser amischen Teenager hinsichtlich ihres Glaubens macht sie also anfällig. Davon profitiert Gilfillan, so findet er sie.«
»Vielleicht wollte Annie King sich nicht rekrutieren lassen«, stelle ich als Möglichkeit in den Raum.
»Das könnte passen«, sagt Tomasetti.
»Gilfillan kommt mir als Täter immer wahrscheinlicher vor«, sage ich. Am liebsten würde ich morgen früh mit Tomasetti nach Buck Creek zurückfahren, um bei der Hausdurchsuchung dabei zu sein. Aber solange Sadie vermisst wird, kann ich nicht hier weg, zumal das letzte vermisste Mädchen tot aufgefunden wurde.
Bilder von Sadie gehen mir durch den Kopf, wie ich sie vor ein paar Tagen auf der Brücke gesehen habe, mit dem hautengen Top, den langen, braungebrannten Armen und dem einnehmenden, kein bisschen schüchternen Lächeln. Sadie mit einer Bierdose in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen. Sadie, wie sie sich mit der Hingabe einer geborenen Straßenkämpferin im Dreck wälzt und Schläge austeilt.
»Tomasetti, ich habe Angst, dass dem Mädchen was passiert«, sage ich leise.
»Ich weiß.«
»Sadie ist …« Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll. Fast hätte ich »etwas Besonderes« gesagt, doch ich weiß, dass alle etwas Besonderes sind. Alle sind Töchter oder Söhne, Brüder oder Schwestern. Alle werden von jemandem geliebt.
»Wir werden ihn kriegen«, sagt er.
»Sie ist rebellisch. Sie wird sich nichts gefallen lassen.« Ich starre auf die Weißwandtafel, erkenne die Worte nicht länger. »Sie hat vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
»Kate, wir tun, was wir können.«
Das ist auch so etwas, das ich an Tomasetti bewundere: Er würde niemals versuchen, mich mit falschen Hoffnungen aufzurichten. Er wird niemals Versprechungen machen, die er nicht halten kann, auch wenn ich sie noch so sehr hören will.
Er kommt zu mir. »Ich weiß, was du denkst.«
Ich lächele, aber es fühlt sich gezwungen an. »Dass ich wünschte, ich hätte nicht Enthaltsamkeit gelobt?«
Er ist mir jetzt so nahe, dass ich vage sein Aftershave wahrnehme und die Hitze spüre, die er ausstrahlt. Ich sehe die Stoppeln an seinem Kinn, die geröteten Augen wegen zu wenig Schlafs und zu vielen Stunden im Auto.
Er runzelt die Stirn, blickt mich dabei liebevoll an. »Du machst dir Vorwürfe, weil du nicht bei den anderen da draußen bist und nach ihr suchst.«
Am liebsten würde ich ihm widersprechen, aber er hat ja recht. »Soll ich mich auf die Couch legen, damit du mich fragen kannst, was ich dabei fühle?«
»Was ich jetzt sage, mag für dich eine echte Überraschung sein, Kate, aber was wir beide jetzt brauchen, ist Schlaf und eine Auszeit, so wie alle anderen auch.«
»Du willst mir aber jetzt nicht erzählen, dass wir Menschen sind, oder?«
Er schenkt mir ein mattes Lächeln, doch seine Augen bleiben ernst. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass wir morgen früh losgehen und sie finden und nach Hause bringen werden. Dass wir den Kerl kriegen. Aber wir beide wissen, dass es manchmal auch anders kommt.«
Als ich den Kopf abwende, legt er die Finger unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. »Doch eines kann ich dir versichern, nämlich dass wir unser Bestes tun. Und das
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