Toedliche Wut
setzen. Ich gebe es ungern zu, aber ich kenne den Zustand, habe ihn schon selbst erlebt, und auf seine Auswirkungen bei früheren Fällen bin ich ganz bestimmt nicht stolz. Die einzige positive Erfahrung dabei war, dass ich meine Grenzen kennengelernt habe.
Es ist fast ein Uhr morgens, als ich mein Haus betrete und von stickiger Luft und dem Geruch der überreifen Bananen auf der Küchenablage empfangen werde.
Ich knipse das Licht an, bringe meine Reisetasche ins Schlafzimmer und lasse sie vor dem Wandschrank fallen. Doch während ich mich erschöpft ausziehe und meine Kleidung in den Wäschekorb werfe, während sich mein Körper nach Schlaf sehnt, gibt mein Kopf keine Ruhe. Und ich weiß, dass ich nicht so schnell einschlafen werde.
In der Dusche drehe ich das Wasser so heiß, dass ich es gerade noch aushalten kann. Ich seife mich zweimal ein, weil ich mehr abzuwaschen versuche als den Schmutz des Tages. Ich hatte mir vorgenommen, sachlich und ohne Emotionen an Sadie zu denken, mich nicht mit der Vorstellung zu quälen, wie die ganze Sache ausgehen könnte und was Sadie vielleicht gerade durchmachte.
Doch jetzt, wo ich allein bin mit meinen Gedanken, stürmen sie wie wilde Bestien auf mich ein. Ich kann nicht anders, als Sadies Verschwinden und den Mord an Annie King im Zusammenhang zu sehen. Und die Möglichkeit, dass Sadie genauso enden könnte, bereitet mir richtig Angst. Wird gerade wieder viel zu früh ein weiteres junges Leben ausgelöscht? Eine weitere Familie zerstört? Das darf ich nicht zulassen, an etwas anderes kann ich nicht denken.
Im Schlafzimmer schlüpfe ich in mein altes T-Shirt aus Polizeiakademie-Zeiten und in eine Jogginghose, gehe barfuß in mein Arbeitszimmer und stelle den Computer an. Während er hochfährt, hole ich meinen Autoatlas, blättere zur Landkarte von Nord-Ohio und reiße zwei Seiten heraus, hefte sie nebeneinander an die Korktafel an der Wand schräg vor meinem Schreibtisch. Mit einem schwarzen Marker male ich einen Kreis um jeden Ort, wo ein Teenager verschwunden ist: Monongahela Falls. Sharon, Pennsylvania. Rocky Fork. Buck Creek, Painters Mill. Dann schließe ich alle Städte in einem großen Kreis ein.
Ich beuge mich über den Schreibtisch, nehme einen roten Filzstift und wende mich wieder der Karte zu. Buck Creek, wo Stacy Karns, Gideon Stoltzfus und Justin Treece wohnen, bekommt einen roten Kreis, genauso wie Salt Lick, wo Frank Gilfillan und seine Kirche der zwölf Wege sind. Ich schließe beide Orte in einem größeren Kreis zusammen und setze mich an den Schreitisch.
Starre die Landkarte an. Die beiden großen Kreise überschneiden sich weiträumig. Alle Städte, die Wohnorte der Opfer und der Verdächtigen, liegen innerhalb eines hundert Meilen großen Radius, in dieser ländlichen Gegend hier also keine zwei Autostunden voneinander entfernt. Gut möglich, dass der Mörder irgendwo in dem Gebiet lebt, wo sich die beiden Kreise überschneiden.
»Warum machst du das?«, flüstere ich, wende mich um und schreibe auf die Weißwandtafel: Warum? , unterstreiche das Wort zweimal. Dann: »Keine Lösegeldforderung. Sexueller Hintergrund? Fetisch-Motiv?« Ich denke an Annie und Sadie und schreibe: »Leichte Opfer? Ausreißer?« Dann füge ich hinzu: »Blut an potentiellen Tatorten.«
»Wo sind sie alle?« Ich denke jetzt laut, lasse meinen Gedanken freien Lauf, gestatte mir unzensierte Einfälle und unausgegorene Theorien. »Warum haben wir Annie Kings Leiche gefunden und die der anderen nicht?«
Ich ziehe mitten auf der Tafel einen dicken horizontalen Strich, unterteile sie so in zwei Hälften. Unter die Linie schreibe ich: »Verdächtige: Stacy Karns, Frank Gilfillan, Gideon Stoltzfus, Justin Treece.« Und zum Schluss: »Unbekannter Täter.«
»Wir kennen dich noch nicht«, sage ich und male einen Kreis um »Unbekannter Täter.« Daneben schreibe ich: »Motiv?« Und: »Warum?«
»Warum entführst du sie?«, sage ich laut, schreibe: »Kennen wir das Motiv, finden wir den Täter.«
* * *
Klopfgeräusche holen mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Adrenalin durchflutet meinen Körper, und ich sitze aufrecht im Bett. Eine Sekunde lang bin ich verwirrt, kann das Geräusch nicht zuordnen. Dann wird mir klar, dass jemand an der Tür ist. Doch warum hat er oder sie nicht geklingelt? Hintertür, denke ich, aber noch etwas anderes ist merkwürdig, und beim Blick auf den Wecker weiß ich auch, was: Es ist drei Uhr morgens. Besucher um diese Zeit bringen meistens
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