Toedliche Wut
Verbindung gefunden«, falle ich mit der Tür ins Haus. »Alle vermissten Teenager haben die Regeln gebrochen. Sie haben sich unanständig benommen, ihre Gefühle ausgelebt.«
»Weiter, was fällt dir sonst noch ein«, sagt er.
»Jemand hat rebellische amische Teenager im Visier. Bonnie Fisher hatte Sex mit mehreren Partnern. Sie war schwanger, unverheiratet und wollte abtreiben. Annie King hatte einen englischen Freund, einen ›schlechten Jungen‹, und verkehrte mit toughen Jugendlichen. Sie hatte Zweifel, was ihren Glauben betraf, und überlegte, sich gegen eine Zukunft bei den Amisch zu entscheiden.«
Die Worte purzeln mir nur so aus dem Mund. »Sadie Miller ist stolz und individualistisch, trägt Make-up und enge Jeans. Sie raucht Zigaretten, trinkt Bier, hängt mit den Englischen ab. Ihr sind Dinge wichtig, die ihr nicht wichtig sein dürften, so wie ihre Stoffkunst. Sie prügelt sich mit anderen, verdammt nochmal. Und auch sie überlegte, dem amischen Leben abzuschwören.«
Ich halte inne, und Tomasetti sagt: »Ich spiele mal den Advocatus Diaboli, Kate, aber alle diese sogenannten Untugenden gehören zum typischen Verhalten vieler amerikanischer Teenager.«
»Aber nicht amischer Teenager. Natürlich hört man immer wieder von Jugendlichen, die sich während ihrer Rumspringa danebenbenehmen. Aber etwa achtzig Prozent von ihnen lassen sich danach taufen und treten der Gemeinschaft bei. Die vermissten Jugendlichen schlagen nicht einfach nur über die Stränge. Sie verletzen wichtige amische Grundsätze und zeigen absolut keine Reue. Sie weichen von der Norm ab, und jemand hat es sich zur Aufgabe gemacht, etwas dagegen zu tun.«
»Klingt ziemlich gewagt«, sagt er. »Was ist mit Ruth Wagler? Noah Mast?«
»Ich kann noch nicht alle Fragen beantworten, aber ich halte es für wichtig, diesem Zusammenhang nachzugehen.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Haben Ruth Waglers Eltern vielleicht irgendwelche Probleme mit ihr erwähnt, bevor sie verschwand?«
»Nein, aber sie waren auch nicht gerade gesprächig.«
»Ich werde mit ihnen sprechen.«
»Nicht so einfach, wenn sie alle kein Telefon haben«, brummt er.
Ich atme tief durch, erleichtert, dass er mit im Boot ist – zumindest mit einem Bein. »Ich weiß nicht, ob ich richtigliege, aber ich hab das Gefühl, dass wir … nahe dran sind.«
»Wobei es von Vorteil ist, dass du dich mit Regelverletzungen gut auskennst.«
Ich lasse die Worte einen Moment im Raum stehen, dann räuspere ich mich und erzähle ihm, dass Irene und Perry Mast vor zehn Jahren eine Tochter verloren haben.
»Komisch, dass sie das nicht erwähnt haben«, sagt er.
»Ich bin gerade unterwegs nach Monongahela Falls – wenn du ein paar Stunden warten kannst, würde ich gern zu den Eltern von Ruth Wagler mitgehen.«
»Ich warte.« Er greift meine Behauptung von vorher auf. »Passt Gideon Stoltzfus auch irgendwo in deine Regelbrecher-Theorie?«
Mit den roten Haaren und Sommersprossen sieht Gideon Stoltzfus zwar freundlich aus wie ein Hundebaby, aber Tomasetti hat recht, was die äußere Erscheinung betrifft: Ob einer harmlos aussieht, heißt nicht, dass er nicht zu den grauenvollsten Taten fähig wäre. »Er selbst ist in einer Position, in der er einen direkten Kontakt mit jungen Leuten herstellen kann, die die amische Glaubensgemeinschaft verlassen wollen.«
»Und das Motiv?«, fragt er.
Ich überlege einen Moment, und ein hässlicher Gedanke schleicht sich in meinen Kopf. »Er ist exkommuniziert. Seine Familie redet nicht mehr mit ihm, er darf nicht mal mehr bei den Mahlzeiten zusammen mit ihnen am Tisch sitzen. Seine Eltern verbieten ihm den Umgang mit seinen Geschwistern – alles Dinge, die einem zusetzen können. Und die Wut erzeugen, enorme Wut.«
»Besonders, wenn die Familie der Lebensmittelpunkt ist.«
»Was auf die meisten Amischen zutrifft«, sage ich. »Und zwar in jeder Beziehung.«
In dem nachfolgenden Schweigen spielen wir beide die Möglichkeiten im Kopf durch.
»Er ist also sauer auf die Amischen«, sagt Tomasetti nach einer Weile. »Er bekommt mit, dass andere Jugendliche einfach das tun, was ihm verboten war, und auch noch damit durchkommen. Sein Leben ist ruiniert, er musste einer anderen Kirche beitreten. Vielleicht ist das sein Weg, um es ihnen heimzuzahlen – er will die Amischen insgesamt leiden sehen.«
»Also ich weiß nicht«, erwidere ich. »Aber deswegen Leute umzubringen ist schon sehr extrem.«
»Na, Wut als eine extreme Emotion
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