Tödlicher Absturz: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
aufhängen möchte, der baut nicht oben so eine komplizierte Seilkonstruktion und hängt sich dann testweise dran, um die Dehnung auszugleichen, oder? Ich bin ja keine Psychologin, aber selbst wenn er all das gemacht hätte, dürfte er trotzdem nicht so weit überm Boden hängen, und außerdem müsste ihm der Ruck mindestens das Zungenbein zerdrückt haben.«
»Und du bist dir da ganz sicher?«, hakte Julia aufgeregt nach.
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit«, grinste Andrea. »Du weißt doch, hundert Prozent gibt’s bei uns nur in Ausnahmefällen. Hier gebe ich dir … sagen wir neunzig Prozent. Immerhin könnte der Gute natürlich in die Hocke gegangen und dann sanft ins Jenseits entglitten sein. Den Stuhl könnte er dann durch Muskelkontraktionen umgeworfen haben, aber ganz ehrlich, wozu dann vorher dieser Aufwand? Die wenigsten wissen das, und das ist auch gut so, aber wenn man’s drauf anlegt, braucht man keinen hohen Balken und Bodenfreiheit, um vorschnell aus dem Leben zu scheiden. Ein Seil um den Hals genügt, dann runter in die Hocke, dass sich die Schlinge strafft, und schon nach Sekunden ist man nicht mehr in der Lage, sich aufzurichten. Selbst wenn einem dann der Gedanke kommt, dass man es vielleicht doch nicht möchte. Das ist fast so endgültig wie Springen.«
»Ja, gut, ich hab’s kapiert«, murrte Julia.
»Vermutlich reden wir als Nächstes über den Springer?«, wollte Andrea wissen und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Nichts Neues bei Karl von Eisner, von unserer Seite aus betrachtet ist die Todesursache multiple Defekte an den inneren Organen, dazu kommen diverse Frakturen an Schädel und Wirbelsäule, na ja, du hast ihn ja selbst gesehen.«
»Ja, danke«, seufzte die Kommissarin. »Diesen Fall werde ich in der Tat nicht alleine durch die Rechtsmedizin lösen können. Leider hat die Spusi auch nichts, aber das soll nicht deine Sorge sein. Was ist mit Frau Löbler?«
»Nun, die Dosis der Tranquilizer war ziemlich hoch«, antwortete Andrea nach einem raschen Blick in ihre Unterlagen. »Man könnte annehmen, dass es halb so viel auch getan hätte, um sie in einen Zustand zu versetzen, in dem ihr so ziemlich alles egal ist. Das Problem ist der Todeszeitpunkt und die Verstoffwechselung der Medikamente. Zwischen Einnahme und dem Pulsaderschnitt liegt über eine Stunde, das stört mich bei dieser Sache. In den üblichen Fällen solcher Suizide, meist sind es ja Frauen, finde ich reichlich Alkohol und Schlaftabletten im Magen. Das meiste davon ist noch nicht vom Körper aufgenommen, sie nehmen es unmittelbar vorher, warten dann aber nicht auf eine durchschlagende Wirkung. Bei Nathalie Löblers Pegel hingegen könnte man fast meinen, dass sie kaum mehr die Klinge hätte führen können. Aber auf die Bibel schwören würde ich das nicht, nur um das gleich klarzustellen.«
»Warum habe ich diesen letzten Satz bloß erwartet?«, kommentierte die Kommissarin trocken.
»Weil du eben weißt, wie der Hase läuft. Meine Arbeit ist nur ein Puzzlestück in deiner Ermittlung. Hundertprozentige Sicherheit bekommst du nicht von einem einzelnen Stück, bedaure. Aber wenn ich trotzdem meinen Senf dazu abgeben darf: Selbst dafür, dass wir gerade erst Weihnachten und Silvester hatten, sind mir das entschieden zu viele Selbstmorde.«
»Wem sagst du das. Wenn ich es richtig zusammenfasse, dann haben wir zwei Tote, bei denen der genauere Blick deutliche Zweifel an der Suizidtheorie aufwirft, und einen, der unmittelbar vor seinem Sturz geheimnisvollen Besuch hatte.« Sie erhob sich und schob mit einem unangenehmen Schaben ihren Stuhl unter den Tisch zurück. »Ich danke dir sehr. Damit hast du mir ein ganzes Stück weitergeholfen.«
»You’re welcome«, lächelte Andrea und spielte gedankenverloren mit ihrem Kaffeebecher.
Freitag, 13.10 Uhr
Z urück im Präsidium fand Julia Durant ihre Kollegen Peter Kullmer und Sabine Kaufmann an ihren Schreibtischen vor, Frank Hellmer hatte sich verabschiedet, um ein Alibi zu überprüfen und bei dieser Gelegenheit Niels Schumann aufzusuchen und ihm seinen Computer zurückzubringen. Sabine zufolge hatte Michael Schreck sich die Festplatte gespiegelt, was auch immer das bedeuten mochte. Seine Hoffnung, tatsächlich noch etwas Verdächtiges zu finden, war jedoch stark gesunken.
»Es gibt keinerlei Daten, die darauf hindeuten, dass Schumann das Foto selbst aufgenommen hat oder die E-Mails oder diesen Flyer selbst produziert hat«, erläuterte Sabine.
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