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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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worden waren. Wir lasen es noch am selben Nachmittag in einem Zug. Natürlich haben wir nicht alles verstanden, außerdem fehlten ein paar Seiten. Aber zumindest wussten wir nun, wem wir zu verdanken hatten, dass wir waren, wo wir waren. Von dem Augenblick an waren wir nur noch von einem Gedanken besessen, einem Ziel: den Schuldigen zu bestrafen und Mama zu rächen!
    Vater Joachim verkündete, er habe Großes mit uns vor, wir müssten uns aber noch gedulden. Hans wurde ins Ausland geschickt, um sich auf dem Gebiet der Computerkriminalität zu spezialisieren. Ich kam nach Wien, um mich mit dem Kulturleben vertraut zu machen. ›Lerne deinen Feind kennen‹, sagte Vater Joachim.
    Ich ging fast jeden Abend in die Oper, habe Medina und Arpata gehört. An einem Abend erhaschte ich sogar einen Blick auf Victor Kamarov. Die Leute erhoben sich von ihren Sitzen, als er den Zuschauerraum betrat. Nie habe ich einen Menschen mehr gehasst. Aber ich liebe die Oper, ich bin leidenschaftlich davon besessen! Die Oper besitzt einen Glanz, der alles andere überstrahlt. Wo sonst gibt es so intensive Emotionen, Intrigen, Leidenschaft, Rachsucht, Verbrechen und Strafe? Keine andere Kunstform gewährt derartige Einblicke in die Abgründe des menschlichen Daseins wie die Oper. Für einen Killer gibt es keine bessere Ausbildung.«
    Tom musste sich mächtig anstrengen, sich nicht von Rudis Rede fesseln zu lassen. Er erzählte so mitreißend, dass es Tom schwerfiel, nicht mit ihm zu fühlen. Der Mann besaß erstaunliche suggestive Fähigkeiten. Tom dachte an Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen. Toms Mast war die Vernunft. Und an den klammerte er sich jetzt.
    Rudi legte beide Hände auf Toms Schultern. »Sie sehen nicht wie ein rachsüchtiger Mensch aus. Das bin ich im Grunde meines Herzens auch nicht, aber ich habe keine andere Wahl. Glauben Sie mir, was in Oslo geschehen ist, tut mir aufrichtig leid. Dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass es Katja getroffen hat … Auch ich bin ein unschuldiges Opfer von James Medinas Egoismus, von Francesco Arpatas brutalen Perversionen und von Victor Kamarovs Eiseskälte. Ich bin der Letzte, der das Schicksal dieser Männer beweint. Sie müssen bestraft werden.
    Sehen Sie nicht, wie hart ich gearbeitet, was ich geopfert habe, was für einen langen Weg ich gegangen bin, um mein Ziel zu erreichen? Jeder bekommt, was er verdient.«
    Rudi Maier schenkte sich Rotwein nach und nahm einen großen Schluck. »Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe. Ich gehe immer noch zur Beichte bei Vater Joachim«, sagte er nachdenklich.
    »Sie sind ein Mörder, auch Sie werden irgendwann für Ihre Taten bestraft werden.« Tom rechnete mit Schlägen für seinen Widerspruch. Eigentlich redete er nur laut mit sich selbst, um die Dinge in eine wirklichere, nüchternere Perspektive zu rücken.
    Rudi sah mit einem Mal resigniert und alt aus, blass, mit fast ausgelöschten Zügen. Die Iris unterschied sich kaum mehr von dem Weiß seines Augapfels, die Pupillen waren nicht größer als Stecknadelköpfe. Das blonde Haar hing schlaff über die Schultern.
    »Vater Joachim hat uns erzählt, wie unsere Mutter gestorben ist. Sie arbeitete bis kurz vor unserer Geburt für einen Kerl namens Richter. Was sind das für elende Schweine, die Sex von einem schwangeren Mädchen im neunten Monat kaufen? Sie ging nie raus. Wahrscheinlich ertrug sie kein Tageslicht. Hockte die ganze Zeit in ihrem Zimmer bei Richter und betete unablässig zu ihrem Gott, dass er sie retten möge. ›Herr, vergiss mich nicht, meine sündige Seele, bleib an meiner Seite, auf dass ich nicht bereue, dir gedient zu haben, wenn du mich abweist.‹ Aber Gott hat sich einen Teufel um sie geschert!«
    Tom versuchte es noch einmal. »Rudi, ich verstehe, was Sie durchgemacht haben. Wenn Sie sich selbst anzeigen und ein Geständnis ablegen, fällt die Strafe milder aus.«
    »Ich gehe zur Beichte, dort habe ich meine Sünden gestanden.« Rudis Gesichtszüge verhärteten sich, die Falten wurden glatter, sein Blick wurde eiskalt. »Wir haben die Gelegenheit, eine Großtat zu vollbringen. Wir werden Geschichte schreiben.«
    »Wir?«
    »Sie sind mit dabei, Tom, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Was wollen Sie denn tun? Sich selbst anzeigen? Wer wird Ihrer wahnwitzigen Version der Geschichte Glauben schenken? Und wer wird Ihnen glauben, wenn Sie meine Geschichte erzählen? Sie werden eingebuchtet, mein

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